N O R D P A R K
V E R L A G |
1. Auflage |
Neuauflage |
Die Trilogie: Mit »Die alten Soldaten« endet in den späten 60er Jahren Karl Otto Mühls Trilogie, die mit »Nackte Hunde« die Jugend im Dritten Reich, Kriegseintritt und Gefangenschaft, in »Siebenschläfer« Heimkehr und Neuanfang beschrieb.
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Siebenschläfer
Februar 1947
Anfang des Monats war ich mit einem Heimkehrertransport aus Frankreich in Wuppertal angekommen. Mit einem Seesack auf der Schulter stapfte ich nachts vom Bahnhof durch den Schnee nach Hause.
Ich kam aus einem französischen Gefangenenlager in der Nähe von Douai. Dorthin hatten uns 1946 die Amerikaner transportiert. Wir mußten in den Kohlebergwerken arbeiten. Ein stürzender Balken hatte mir einen Rückenwirbel angeknackst. Ich war monatelang arbeitsunfähig gewesen und einer der ersten, die entlassen worden waren.
Es brennt ja Licht, dachte ich, als ich durch die Straßen ging und meinen Seesack von einer Schulter auf die andere wuchtete. Es brennen ja Öfen; man sieht den Rauch gegen den Nachthimmel. Die ganze Welt ist plötzlich wieder da. Am besten ganz gleichmütig bleiben, nicht zu viel auf einmal wollen. Sonst wirst du verrückt.
Ich war noch nicht vierundzwanzig, Ich war gesund. Selbst wenn ich am Anfang etwas falsch machte, konnte ich es bei dem langen Leben, das vor mir lag, mehrmals korrigieren. Mir konnte nichts passieren. Nicht einmal an die falsche Frau konnte ich geraten. Ich würde einfach nicht heiraten, bis ganz sicher war, daß ich die Richtige gefunden hatte.
Die Wohnung meiner Eltern in der Markomannenstraße war durch Bomben nicht zerstört worden. Einmal war aus ruhigem Mittagshimmel eine englische Maschine auf Wuppertal herabgestoßen und hatte Straßen und Häuser mit Maschinengewehrsalven eingedeckt. Meine Mutter behauptete, der Pilot hätte sie gesehen. Aber er habe nicht auf unser Haus geschossen, sagte sie. Dagegen hatte eine Luftmine, die weiter entfernt in der Markomannenstraße fiel, die Fensterscheiben der Wohnung zerplatzen lassen. Eine Zeitlang mußten Pappdeckel das Glas ersetzen.
Da oben hinter den Fenstern waren sie: Vater und Mutter, die um den Sohn gebangt hatten. Der Sohn kam aus dem Krieg nach Hause und würde erfüllen, was die Jahre versagt hatten. Kleider und Wäsche, Zigaretten, Wein, Bücher, alles lag für ihn bereit. Nichts Bedeutsames, Aufregendes mußte geschehen. Es genügte, daß zukünftig alles anders sein würde als bisher. Der Sohn kam.
Mein Bett war schon gemacht. "Du wirst froh sein, wieder einmal in einem richtigen Bett zu liegen, nicht wahr. Nach dem Bombenangriff hat wochenlang ein nettes Mädchen darin geschlafen", sagte mein Vater.
Als ich am Morgen vom offenen Fenster aus in die Wintersonne blinzelte, fragte ich mich, was ich jetzt wollte. Was konnte ich tun? Gut, studieren oder etwas lernen. Mal sehen, bei welcher Schule ich ankommen konnte.
Mädchen wollte ich kennenlernen. Eines genügte, egal, wie es hieß, ob es blond oder dunkel, klein oder groß war. Die Hauptarbeit der Liebe war schon geleistet; ich wünschte sie mir so sehr, daß Schwierigkeiten überhaupt nicht denkbar waren.
Aber zunächst mußte ich meine Freunde auftreiben. Viele sind bereits wieder hier, sagten die Eltern.
Meine Freunde: das waren Heinz Severin, angestellt bei der Stadtverwaltung, Kurt zur Nieden, Journalist, Horst Balke, Ingenieur, und Max Obendorf, der bei Verwandten in Lüdinghausen wohnte und ein bißchen herumstudierte. Vielleicht gehörte noch Arno Flach dazu, aber das war eher eine lange zurückliegende Schulfreundschaft, von der nicht viel übriggeblieben war. Flach studierte in Köln Medizin.
Wuppertal ist ein steinerner Wurm, der sich durch ein langes, waldiges Tal schlängelt. Im Osten der Stadt gibt es Ortsteile, die Beyenburg, Heckinghausen, Oehde, Nächstebreck, Wichlinghausen heißen; weit vor der Stadt liegen die Straßenkreuzungen, von wo aus, unbemerkt von uns im Elberfelder Westen, ganze Armeen einmarschieren könnten. Kleine Kirchen stehen im wuchernden Grün wie Kultstätten im Urwald. Niemand wußte, was sich dort abspielte.
Wir wohnten alle in der Elberfelder Mitte: meine Eltern und ich in einem alten Haus nahe dem Neumarkt. Die Giebelseite des Hauses war mit Schiefer gedeckt, die Treppen waren eng und ausgetreten und naß vom täglichen Wischen; das Treppengeländer knarrte. Dort wohnten wir, seit ich konfirmiert worden war, zwischen Bäckereien, Wirtschaften, Läden, winzigen Betrieben in Hinterhöfen.
Die Erinnerungen: hier bist du in die Schule gegangen, hier stand die Fischbratküche, in die du immer nach dem Turnen gegangen bist.
Vom Weinberg und vom Nützenberg aus sah ich auf die Stadt. Ich ging durch die Friedrichstraße, die Gerberstraße, die Schreinerstraße. Diese Gegend hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren nicht verändert. Hier war ich in blankgewienerten Lederhosen gegangen, als Pimpf in dunkelblauer Bluse marschiert. Das Antreten morgens auf dem Schulhof, Fahnen, Kantaten von Heribert Menzel.
"Herr Studienrat, wenn man aber nicht blond ist oder keine blauen Augen hat? Wird man dann noch was?"
"Aber natürlich, Junge. Es gibt doch auch das Geistig-Nordische. Denk nur an Kant, was war das für ein großer, klarer, nordischer Geist im Deutschen Osten, und dabei ganz klein von Gestalt."
Mein Klassenkamerad Heinrich verteilte heimlich katholische Flugblätter, und unser Kamerad Gerhard lief bei den Sportfesten als Pressepimpf mit der Kamera herum. Abends, als ich nach Hause kam, saß der alte Falisch im Treppenhaus, vorübergehend aus dem KZ entlassen.
"Wir mußten Loren schieben, mein Junge, so schwer, daß es uns den Hintern auseinanderriß. Was hast du da für eine schöne Schnur an deiner Uniform, mein Junge? Willst du einen Apfel von einem Juden?"
"Warum gehen Sie nicht hinein zu Ihrer Frau, Herr Falisch?"
"Ich wollte mich nur ein wenig beruhigen. Es genügt, wenn sie weint."
Fünf Jahre später lag ich mit einem Gipsverband in einem kanadischen Kriegsgefangenenlazarett. Der deutsche Arzt ging an den Betten vorbei und blieb bei mir stehen.
"Die hatten es diesmal auf Wuppertal abgesehen", sagte er. "Ein Angriff mit Hunderten von Flugzeugen. Die Zeitungen hier schreiben, daß die Stadt ganz verbrannt ist. Hatten Sie nicht Verwandte in Wuppertal ?"
Der Feuersturm hatte die Elberfelder Nordstadt vernichtet. Mein Vater hatte beim Löschen geholfen und die auf Zwerggröße geschrumpften Leichen am Straßenrand ausgelegt. Meine Mutter überklebte die Sprünge in den Fensterscheiben mit Heftpflaster. Falisch stand im Waggon an seine Frau gepreßt, die Nierenbluten hatte, und der Zug rollte nach Theresienstadt.
Wuppertal war eine Stadt, in die vom Osten Schinken, Milch, Butter und schwarzgekleideter Bauernernst hereinflossen. Die Bürger waren von überall her, auch aus Kurhessen und Waldeck, gekommen. Unter dem rhythmischen Ratschen der Bandstühle gingen sie durch die Türen ihrer schwarzblanken Schieferhäuser ein und aus. Sie bauten kleine Fabriken, plätscherten sonntags auf Gondelteichen, bauten den Zoo und die Schwebebahn, waren fleißig und freundlich. Selten gab es Mord und Aufruhr. Neben dem grauen und weißen Rauch aus Werkzeugfabriken und Bandwirkereien stiegen die Gebete von hundertsiebenundzwanzig Sekten zum Himmel. Ihre Anhänger waren genauso hartnäckig fromm wie die Reformierten und Lutherischen.
Karnevalsumzüge, der Führer spricht, Goebbels spricht, Einweihung des Bismarckturms, Ehrenmäler hier und dort, Sonnborner Kirmes. Wir fielen wie Heuschreckenschwärme in das Gebiet benachbarter Jungenbanden ein, trugen im Westerbusch Schlachten mit Steinen, Knüppeln und Grasbatzen aus. Das dampfende Sonntagmittagessen, abends die Melancholie unter der Lampe, die kühle Sommerabendluft in der Mirker Badeanstalt; die Badeanzüge spannten sich über den mageren Hintern der kleinen Mädchen.
Ich war im verschneiten Elberfeld und erlebte innerhalb von kurzer Zeit, wie man die Gefangenschaft vergessen kann und nicht mehr vor Begeisterung darüber verrückt wird, daß man daheim ist.
Arbeit vermißte ich nicht. Ich hatte vollauf damit zu tun, morgens zu frühstücken und die Zeitung zu lesen, herumzugehen und die alten Freunde zu besuchen.
Nicht weit von uns lebte Kurt zur Nieden mit seiner Mutter in einem Haus in der Wiesenstraße, die, einen Kilometer lang, zu den Nordhängen von Wuppertal hinaufführt. Wie die meisten Häuser in der Wiesenstraße stammte es aus den neunziger Jahren. Es gehörte Kurts Mutter und deren Schwester. Der Vater war schon vor dem Krieg gestorben. in einem ähnlichen Haus wohnte Heinz Severin in der Friedrich-Ebert-Straße. Es hatte graugrünen Gipsputz mit einem Schimmer von Phosphortönung darin. In beiden Häusern ging man im Hausflur über Rosettenmuster. Das Licht von außen glomm durch farbige Flurfenster.
Die Bücher im NordPark Verlag:
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Info zu
Karl Otto Mühl Karl Otto Mühl wird am 16.2.1923 in Nürnberg geboren. 1929 erfolgt der Umzug der Familie nach Wuppertal. Dort Ausbildung zum Industriekaufmann. 1941 Kriegsdienst in Afrika, Gefangenschaft in Ägypten, Südafrika, USA, England. Im Februar 1947 Rückkehr nach Wuppertal, wo er sich der Künstlergruppe »Der Turm« anschließt, der auch Paul Pörtner angehört. Erste Kurzgeschichten werden 1947/48 veröffentlicht. Mit den Theaterstücken »Rheinpromenade«, »Kur in Bad Wiessee«, »Die Reise der alten Männer« gelingt ihm der Durchbruch.Seither veröffentlichte Karl Otto Mühl dreizehn Theaterstücke, zahlreiche Fernsehfilme, Hörspiele und Ro-mane. Die Stadt Wuppertal verlieh ihm 1975 den von-der-Heydt-Preis. 2006 erhielt er den Literaturpreis der Springmann Stiftung und 2015 den Rheinlandtaler. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) und im P.E.N. Biographie von Karl Otto Mühl Info-Flyer Mühl (pdf) Bücher im NordPark Verlag: (chronologisch) Das Privileg Inmitten der Rätsel Siebenschläfer Hungrige Könige Nackte Hunde Lass uns nie erwachen Sandsturm Geklopfte Sprüche Die alten Soldaten Stehcafé Die Erfindung des Augenblicks Totenwache Weiterführende Links: Musenblätter zum 85. Wikipedia Verlag der Autoren Westfälisches Literaturbüro Perlentaucher Deutsches Literatur-Archiv Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - KLG (Beitrag von Michael Töteberg) kostenpflichtig NordPark Verlag Klingelholl 53 42281 Wuppertal Tel.: 0202/51 10 89 Impressum |