N O R D P A R K
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Leseprobe
Sonntagmorgen
im Stehcafé
Der Sonntagmorgen, ich meine, der stille, der menschenleere,
auch möglichst sonnige, er verdient alle
Aufmerksamkeit.
Viele werden freilich jetzt noch schlafen, sie merken
nichts von ihm.
Wir früh Aufgestandenen jedoch erleben eine
Welt,in
der auch die Mächte, die uns sonst zu bedrohen
scheinen, noch mit eingezogenen Krallen schlafen.
Das Autoradio lasse ich stumm.
Wenn es im Autoradio schlechte Nachrichten
gibt, sind sie meistens von gestern. Im Übrigen sind
Nachrichten fast immer schlecht.
Ich fand den Morgen reich an Eindrücken, als ich
zum nahen Wald fuhr. Schon die wenigen Gesichter
an den Bushaltestellen verlockten zum Studium: Gepflegte
Matronen auf dem Weg zu Verwandten, sie
suchen Menschennähe.
Die Bäckerei-Verkäuferin sagt immer: »Nein, ich
bin überhaupt nicht allein. Ich habe ja meine Nichte.«
Ein wackerer und friedlich aussehender Wandersmann
mit wadenlanger Hose auf dem Weg in den
Wald. Vielleicht fand sich einmal ein Mädchen, das
es mit ihm versucht hätte, aber er hat sich nicht getraut.
Mir begegnen: Eine dickliche Frau, die mit einem
großen, gefährlichen, an der Leine zerrenden Hund
kämpft, und überhaupt die friedliche, die stille Welt,
von der noch keinerlei Gefahr zu drohen scheint. Es
stimmt wohl, dass tagsüber immer etwas passiert.
Oder dass etwas passiert, das einem selbst fast
hätte passieren können. Oder dass jemandem etwas
passiert, bei dem wir wissen sollten: »it tolls for you«
– die Glocke schlägt auch für dich, immer vorausgesetzt,
dass die Menschheit ein mystischer Leib ist.
Der Verstockte, Schweigsame aus dem Nebenhaus,
der nie grüßt, hier sehe ich ihn während des Fahrens
in Jogging-Kleidung auf dem Gehsteig laufen.
Er spricht nie ein Wort, wenn ich ihm sonst begegne.
Aber ich hebe sportlich grüßend die Hand, er stockt,
kann nicht anders, grüßt zurück. So weit habe ich
ihn schon einmal gebracht.
Ich parke den Wagen, trotte los und begegne noch
weiteren Menschen.
Ein Afrikaner, gefolgt von einer kleinen, klug aussehenden,
bebrillten Frau, vielleicht eine Lehrerin,
joggt an mir vorüber; kleine Gruppen von Frauen,
nicht mehr ganz jung, aber so immer öfter zu sehen,
walken mit ihren Stöcken eilig heran; einzelne Väter
rennen vorbei, sie schieben dreirädrige Kinderwagen,
die geländegängig sind. Männerblicke folgen
niedlichen Radfahrerinnen, die von Begleithunden
beschützt werden.
Und dann kommt der ersehnte Augenblick. Ich
finde die kleine Bäckerei, die am Sonntagmorgen geöffnet
hat, bekomme einen Pott Kaffee und ein belegtes
Brötchen. Ich schlürfe gierig meinen Kaffee.
Draußen ist es windig, aber auch sonnig zwischen
weißen, rasch segelnden Wolken.
Aus knapper Entfernung sehe ich, wie der Wind
die Bäume im Wald beutelt.
Zwischendurch kommt ein laut schreiender alter
Mann herein: Er sei Rentner, habe darum keine Zeit,
ob seine Frau da wäre, nein, dann müsse sie ihre
Brötchen selber holen, Tschüss. Es ist lustig gemeint,
wirkt jedoch ziemlich wichtigtuerisch.
Junge Männer und Mädchen in Gauloises-Sonntagskleidung
kommen herein, kaufen Brötchen, abgelöst
von einem gepflegten Mädchen, süß aussehend,
süß plappernd.
Nacheinander zwei etwa achtjährige Jungen, festen
Schrittes, offenen Blickes, präzise bestellend,
bitte,
danke, stimmt genau, Tschüss und einen schönen
Sonntag. Mir bleibt der Mund offen stehen. Das
hätte ich als Junge nicht gekonnt.
Wo wird man so gemacht? Ich will zurück, noch
mal an den Anfang, auch so werden.
Es wird stiller in meiner Steh-Bäckerei. Nur ein
Paar mittleren Alters, mehr als nachlässig gekleidet,
steht noch draußen an einem Tischchen und trinkt
Kaffee.
Sie rauchen – mir wurde so früh immer flau davon,
heute lasse ich es schön – und, tut mir leid, ich
denke bei ihrem Anblick allerlei:
Ob sie geschiedene Singles sind, frühverrentet,
krankgeschrieben, arbeitslos, obdachlos?
Ich weiß, die sehen nicht alle so aus.
Das Drama meiner mageren, blassen, kleinen
Stehbäckerin
hat inzwischen begonnen, die, welche
sonntags immer zu ihrer Nichte geht. Ich sehe sie
immer wieder vor die Türe gehen und eine Zigarette
anzünden, aber Sekunden später kommt sie mit
verzweifeltem Gesichtsausdruck wieder herein – ein
Kunde naht. So geht es vier- bis fünfmal.
Schließlich sage ich: »Vielleicht sollten Sie eigentlich
nicht rauchen? Wer raucht, ist abhängig. Man
lebt ja ständig mit Unlustgefühlen.
»Ich bin nicht abhängig. Ich kann jederzeit aufhören
«, sagt sie trotzig.
»Ich verstehe. Klappt eben nicht so?«
»Wenn ich bei meiner Nichte bin«, ergänzt sie,
»dann kann ich es fünf bis sechs Stunden lassen.«
»Das wäre schön, wenn das immer ginge«, sage ich
etwas zu hartnäckig. »Ich kann es nicht leiden, wenn
einem Leute andauernd was beibringen wollen. Ich
weiß selber, was ich will.«
Ich zweifele nicht daran, ich hätte da ja selber lange
Quälereien hinter mir, sage ich mit einem Versuch
zur Versöhnung. Aber dazu ist es zu spät.
»Oder solche, die alles besser wissen«, fügt sie
schärfer hinzu. Ich begreife, dass ich längst damit
aufhören müsste. Ein weiteres Brötchen scheint notwenig
zu sein. Es könnte vielleicht helfen.
»Bitte.«
»Hier.«
»Ist da sonst nicht immer ein Salatblatt auf dem
Brötchen?«, frage ich.
»Haben wir heute nicht«, sagt sie kurz angebunden.
Ich glaube es zwar nicht, aber ich sehe zu, wie
sie wieder mit ihrer Zigarettenschachtel vor die Türe
geht. Vom Rauchen werde ich nie mehr mit ihr sprechen.
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Info zu
Karl Otto Mühl ![]() Karl Otto Mühl wird am 16.2.1923 in Nürnberg geboren. 1929 erfolgt der Umzug der Familie nach Wuppertal. Dort Ausbildung zum Industriekaufmann. 1941 Kriegsdienst in Afrika, Gefangenschaft in Ägypten, Südafrika, USA, England. Im Februar 1947 Rückkehr nach Wuppertal, wo er sich der Künstlergruppe »Der Turm« anschließt, der auch Paul Pörtner angehört. Erste Kurzgeschichten werden 1947/48 veröffentlicht. Mit den Theaterstücken »Rheinpromenade«, »Kur in Bad Wiessee«, »Die Reise der alten Männer« gelingt ihm der Durchbruch.Seither veröffentlichte Karl Otto Mühl dreizehn Theaterstücke, zahlreiche Fernsehfilme, Hörspiele und Ro-mane. Die Stadt Wuppertal verlieh ihm 1975 den von-der-Heydt-Preis. 2006 erhielt er den Literaturpreis der Springmann Stiftung und 2015 den Rheinlandtaler. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) und im P.E.N. Biographie von Karl Otto Mühl Info-Flyer Mühl (pdf) Bücher im NordPark Verlag: (chronologisch) ![]() Das Privileg ![]() Inmitten der Rätsel ![]() Siebenschläfer ![]() Hungrige Könige ![]() Nackte Hunde ![]() Lass uns nie erwachen ![]() Sandsturm ![]() Geklopfte Sprüche ![]() Die alten Soldaten ![]() Stehcafé ![]() Die Erfindung des Augenblicks ![]() Totenwache Weiterführende Links: Musenblätter zum 85. Wikipedia Verlag der Autoren Westfälisches Literaturbüro Perlentaucher Deutsches Literatur-Archiv Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - KLG (Beitrag von Michael Töteberg) kostenpflichtig NordPark Verlag Klingelholl 53 42281 Wuppertal Tel.: 0202/51 10 89 Impressum ![]() |