N O R D P A R K
![]() V E R L A G |
Es war schon Feierabendzeit, als Demessieur zur Toilette ging,
durch menschenleere, knisternde Büros, an Pflanzen vorbei,
die sich, bedeutsam blickend, einander zuneigten und nun endlich
unter sich waren. Rasselnde Geräusche von Geräten in der
Telefonzentrale. Die Büros waren nun ungefährlich und friedlich,
das Drama der täglichen Auseinandersetzungen war verklungen,
Spannungen, Bedrohungen gar, waren nicht mehr vorhanden.
Diejenigen, die sie verursacht hatten, waren gegangen.
Manchmal, wenn er ein leeres Büro betrat, kam es Demessieur
vor, als sei gerade ein Gespräch erschreckt und eilig beendet worden.
Überstunden wurden bei Emdenborg selten gemacht. Selbst die
Herren vom Vorstand gingen traditionell pünktlich heim. Der
alte, bereits verstorbene Vorstandsvorsitzende hatte einmal gesagt:
"Wer abends nicht mit seiner Arbeit fertig ist, der ist faul."
Das erinnerte wohltuend an frühere, fürsorglichere Zeiten, traf
aber auf Demessieur nicht zu. Als Produktmanager mit einem
weit gefächerten Arbeitsgebiet und vielen Kontakten kam er oft
nicht umhin, abends länger zu bleiben.
Als Demessieur wieder hinter seinem Schreibtisch saß und sich
gerade zum Weiterarbeiten entschlossen hatte, hörte er die Tür,
dann ein Räuspern. Es kam von dem Werksschutzmann auf Kontrollgang.
Demessieur kannte ihn vom Sehen. Stets trug er
schwarzes Hemd und schwarze Hose, von der Schulter baumelte
eine Stechuhr, die ihn selbst kontrollierte, wenn er die einzelnen
Kontrollpunkte passierte. An seinem Gürtel war eine Pistole befestigt.
Er grüßte Demessieur mit flüchtigem Kopfnicken, blieb
stehen und starrte ihn an.
Etwas Einschüchterndes ging von ihm aus, etwas Zudringliches,
Brutales.
"Ja bitte?"
"Die Fenster! Direktor Ehrenwirth fragt immer wieder, ob sie
ordnungsgemäß verschlossen waren. Man muss es den Ganoven
ja ein bisschen schwerer machen."
Der glatzköpfige, düstere Mensch durchquerte das Büro und
untersuchte jedes der drei kippbaren Fenster mit übertriebener
Gründlichkeit. Dann wandte er sich Demessieur zu: "Und sonst?
Alles klar?"
Demessieur runzelte die Stirn. "Wie bitte?"
"Na ja, Sie sehen erschöpft aus. Das ist ja der Mist, dass abends
manchmal die richtige Kraft fehlt."
Demessieur fühlte, dass der Mann weiter gefragt werden wollte.
"Kraft? Wozu?"
"Na, ich dachte, Sie wissen, was ich meine. Ist ja kein Geheimnis.
Das hier ist ja vielleicht nicht alles, was Sie können."
"Nichts weiß ich", entgegnete Demessieur. "Was meinen Sie denn?"
Der Glatzkopf postierte sich vor dem Schreibtisch. "Sie kennen
mich?"
"Gesehen habe ich Sie schon öfter, das stimmt."
"Und? Und? Ich meine, was haben Sie von mir gedacht?"
Demessieur zuckte mit den Schultern. "Musste ich dabei etwas
denken, Herr ..."
"Zajonski. Entschuldigung! Ihren Namen kenne ich. Steht ja an
der Tür. Ich kann Ihnen sagen, was Sie von mir gedacht haben,
Herr Demessieur: Für einen Spinner haben Sie mich gehalten, für
einen, der es nicht weit gebracht hat. Stimmt auch. Stimmt!"
Überraschend zerrte er zusammengefaltete Blätter aus seiner Hosentasche.
Sie waren mit Gedichten beschrieben. Zajonski strich
sie glatt und wedelte mit ihnen in der Luft.
"Könnte aber sein, dass doch was hinter dem Mann steckt! Er
könnte vielleicht Begabung haben und Sachen schreiben, die an
die Gurgel springen wie ein scharfgemachter Hund ..."
Demessieur unterbrach ihn: "Sie schreiben? Sie sind so eine Art
Dichter?"
"Kann man sagen. Aber nicht so’n artistisches Zeug wie die vom
Literaturkartell sie mögen. Und für Studienräte schon gar nicht,
diese gebildeten Biedermänner. Und Scheiß-Naturalismus erst
recht nicht!"
Zajonski warf die Blätter auf den Schreibtisch, zog einen Zeitungsausschnitt
aus seiner Brusttasche, faltete ihn auseinander und
hielt ihn Demessieur so hin, dass er die Überschrift lesen konnte.
"Stand in der Rheinischen Post. Ne Art Kurzgeschichte."
"Rheinische Post – immerhin!"
"Kleine Sache. Aber meine Frau meint, ich wäre ein Großmaul
und sonst nichts. Würde Ihre Frau doch nie sagen, so was, oder?
Wissen Sie, was ich bei Ihnen immer gespürt habe?"
Demessieur hatte erwartet, dass der Wachmann die Antwort
gleich mitliefern würde, aber das geschah nicht.
"Na?"
Zajonski schnaufte, als strengte ihn das Geständnis an: "Dass wir
beide Wesentliches gemeinsam haben."
"Tatsächlich?"
Demessieur überlegte. Dieser Mann hatte vermutlich etwas über
ihn erfahren, was er hier in der Firma unbekannt glaubte, wahrscheinlich
etwas ganz Läppisches.