Karl Otto Mühl, der nach einem langen Leben zurückblickt
auf Schicksale, fremde und eigene, blickt
auf die Freunde, die ihn bereits verlassen haben. Sie
sind ihm liebend gegenwärtig, und die Erinnerung
an sie wird zur aktuellen Begegnung mit der Rätselhaftigkeit
des Lebens und Sterbens.
Er hat sie sich
nicht nach öffentlicher Bedeutung ausgesucht, diese
Freunde, sondern nach der Intensität, mit der sie Teile
seines Lebens geworden sind. Und dennoch ist jeder
von ihnen ein Solitär, manchmal sogar im öffentlichen
Wirken, aber für uns, die Leser, werden sie zu
Marksteinen, die uns eindringlich anblicken.
Sie erinnern
uns daran, dass wir zusammengehören in einer
Welt, die uns alle voneinander zu trennen scheint.
Leseprobe
Die Anwesenheit der Toten
Ich lese im PC eine Nachricht aus München – der im
Kriege beinamputierte Freund Erich sei plötzlich gestorben,
sanft eingeschlafen. Erich war nach dem Kriege einer
meiner engsten Freunde; viel scharfsinniger als ich, immer
auf Präzision im Ausdruck bestehend, ein Adept von Volkmann-Schluck,
Heidegger und Husserl. Gadamer, mit dem
mich der Zufall einmal im selben Eisenbahnabteil zusammenführte,
kannte ihn gut. Philosophen kennen einander.
Ich kann und will gar nicht aufschreiben, was wir alles zusammen
erlebt haben und voneinander wussten. Wie er,
der Anspruchsvolle und Unruhige, auf Umwegen genau die
richtige Frau fand; wie niemand, der enger mit ihm zusammenlebte,
ohne bleibende Spuren von dieser Begegnung
blieb. Der Augenblick, wo ihm ein Granatsplitter ein Bein
wegriss, steht deutlich vor meinen Augen – er, der blauäugige,
blonde Mustergermane, plötzlich mit Krücken …
Und dann bin ich bei meinem Dauerthema, dem
Sterben. Ich schriebe zu viel darüber, hat jemand gesagt,
aber ich kenne seinen Maßstab nicht. Bei mir ist
das so, dass ich mich an den Gedanken gewöhnen
möchte, aber ich weiß nicht, ob das möglich ist. Ich
mache mir klar, dass ich einfach an eine Grenze kommen
werde, wo mein Bewusstsein schwindet, jedoch,
den Augenblick des Grenzübergangs erlebe ich wahrscheinlich
nicht, ebenso wenig, wie ich die Sekunde
des Einschlafens erlebe. Ich fantasiere weiter, stelle
mir vor, dass dies ein Augenblick des Absprungs ins
Unendliche sein wird. Mehr liefert mir meine Fantasie
nicht.
Eine hübsche Physiotherapeutin sagte vor etwa dreißig
Jahren dazu: »Seien Sie doch einfach neugierig darauf.
Vielleicht gefällt es Ihnen, was dann kommt«.
Sie hatte einfach ein munteres Wesen. Das verhalf ihr zu einer
abenteuerlichen Laufbahn. Sie wurde eine Art Coach,
wobei sie selbst Ärzte beriet und sie mit esoterischen Theorien
vertraut machte, und es passierte wirklich: es fand
sich eine alte Diplomarbeit aus der Sozialpädagogik von
ihr, und heute ist sie eine leibhaftige Professorin. Mehr verrate
ich nicht.
Aber nun drängt sich mir ein Gedanke auf: Begehe ich
nicht einen Fehler, wenn ich die Toten, die Eltern, die
Freunde, die Nahestehenden, versehen mit ehrendem Angedenken,
einfach ins Archiv verbanne? Natürlich werde
ich immer wieder an sie denken, aber reicht das? Haben
sie nicht Anspruch auf mehr? Habe ich das Recht, sie in
einer Deponie zu lagern? Ganz genau: Habe ich das Recht,
sie einfach für tot zu erklären?
Die Bibel spricht von der Auferstehung der Toten. Nehmen
wir sie beim Wort, dann setzt das einen Zeitraster voraus.
In meiner Welt gibt es in diesem Augenblick keine solchen
Raster, im Unendlichen geht alle Zeit gegen Null. Einstein
wusste das. Darum treten meine Toten langsam und behutsam
näher und blicken mich an. Sie sagen mir, dass
Vergangenheit und Zukunft gefallene Baumblätter sind,
die auf dem Strom des Unbeschreiblichen schaukeln.
Ob die Toten wirklich tot sind, können nur sie selber wissen.
Zumindest wissen sie es besser als ich, denke ich. Gibt
es nicht Völker genug, die ihre Toten anwesend sein lassen?
***
Helden
Vermutlich gibt es sie, aber man wird sie für jeden
Fall neu definieren müssen: »war ein Held, weil ...«
So etwa.
Für mich sind alle meine verstorbenen Freunde Helden,
weil ich sie kämpfend untergehen sah. Einige, die noch
leben, sind bereits dabei, es zu werden. Wir telefonieren
miteinander oder ich besuche sie, und ich glaube, wir
haben immer das Gefühl, dass uns die richtigen Worte
fehlen, um in so einer Situation miteinander zu reden.
Soll ich trösten? Der Noch-Leben-Dürfende den Sterbenden?
Wie der Geldsack den Armen? Oder munter
darüber hinweg: »Pass auf, das wird schon wieder.«
Vielleicht werden wir auf diese Weise am Schluss alle zu
Helden, ob wir wollen oder nicht.
Walter Knorr ist es so ergangen. Er wohnte einige Hundert
Kilometer von mir entfernt, aber wir telefonierten
oder faxten häufig miteinander. Nicht, dass wir uns gut
verstanden hätten, nein, es blieb nach jedem Telefonat,
nach jedem Fax ein Gefühl der Kränkung zurück. Ich ärgerte
mich, weil er meinte, alles besser zu wissen und
weil er alles, was darüber hinausging, als suspekt oder
hirnrissig bezeichnete, und er ärgerte sich, weil ich mir
anmaßte, ihm Ratschläge zu geben. Denn ich meinte
natürlich, er brauche sie, verließen ihn doch im Laufe
seines Lebens drei Frauen, die er geheiratet hatte.
Aber kurz danach standen wir uns jedesmal erneut eifernd
gegenüber, jeder wollte noch einen wichtigen
Gedanken, ein letztes Argument loswerden, und dieses Spiel wiederholte sich immer wieder. Manchmal
schämte ich mich, wenn ich daran dachte.
Er war in der Firma vor vielen Jahren mein Lehrling gewesen,
ein kluger Bursche mit rascher Auffassungsgabe. Er
schloss an die Lehre noch ein Studium an, brachte es in
einem Großkonzern zu einer weitaus besseren Laufbahn
als ich, war Manager im Ausbildungsbereich, doch schon
vor seiner Pensionierung hatte man wohl genug von
ihm und schickte ihn in den Ruhestand. Er lebte bis zum
Schluss von einer satten Rente und den Erträgen seines
Vermögens.
Und dann wurde er krank. Es kam zu einer Herzoperation
nach der anderen. Bypässe, Herzschrittmacher, Lungenödeme,
Krankenhaus-Aufenthalte in immer kürzer
werdenden Intervallen. Abendliche, klagende Anrufe, er
verstehe nicht, warum Frau Eins oder Zwei nicht wieder
zu ihm zöge, an Geld würde es ihr doch nicht mangeln.
Er sah keine Fehler bei sich, und ich sagte nichts darüber.
Viele Menschen sind so wie er, wir vielleicht auch.
Einmal habe ich zu jemand etwas gesagt über die Ursachen
seiner Konflikte. Die Antwort war: »Ich habe es mir
nicht ausgesucht.« Das hat derjenige nicht umsonst zu
mir gesagt. Es fällt mir immer wieder ein. Wir sind auch
Gefangene unserer Irrtümer, aber auch unserer Charakterstrukturen.
Was Walter anbelangt, so hätte ich ihm gerne
gesagt, dass ihn ein weitgespanntes Segel ziehe, und
das heiße Allmacht und Allwissenheit. Es ziehe ihn in die
Einsamkeit, dieses Segel.
Denn er hatte niemand mehr. Keiner schien ihn zu mögen. Er engagierte eine übergewichtige polnische Frau,
die sich um ihn und den Haushalt kümmerte, aber meistens saß er allein in seiner Villa und blickte auf den kleinen
Park davor. Er hatte einen Sohn und eine Tochter, doch
ich hörte nie, dass sie bei ihm waren. Er hatte zwei Frauen,
die sich von ihm hatten scheiden lassen, und eine Dritte,
die offiziell noch mit ihm verheiratet war. Die Nachdenklichste
und Empfindsamste unter ihnen hatte mich einige
Male angerufen. Sie wollte auch nicht zu ihm ziehen, sie
hatte wie die anderen ihn nur als nörgelnden, besserwisserischen
und gefühlsarmen Kerl kennengelernt.
Vor vier Wochen ist er gestorben. Für mich wird er wenige
freundliche Gedanken mitgenommen haben, dachte ich,
aber dann erlebte ich etwas anderes.
Die zweite Frau, die im Ausland lebte, rief mich an und
wollte lange mit mir über ihn reden. Die dritte Frau schrieb
mir einen langen Brief. Walter sei sehr stolz auf mich gewesen,
den alten Kollegen und Vorgesetzten, es habe ihm
gutgetan, dass ich zu ihm gestanden habe. Und sie habe
immer verstanden, dass er ein einsamer, trauriger Mann
gewesen sei, der sich aber nach Nähe gesehnt habe.
So ähnlich sprach auch die geschiedene Frau, die in Chile
lebt. Die enge Beziehung zwischen ihm und mir habe
ihm viel bedeutet.
Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Eigentlich glaubte
ich, von ihm verachtet und verabscheut worden zu
sein. Und, ich will ehrlich sein, hatte ich ihn nicht insgeheim
auch für einen armen Psychopathen gehalten, der
einfach therapieresistent war?
Aber jetzt klang mir tagelang dieser Satz eines eng mit
mir verbundenen Menschen im Ohr: »Ich habe es mir
nicht ausgesucht.«
Und das scheinen auch die Frauen, die ihn verließen,
verstanden zu haben.
Dann rief sogar seine nicht geschiedene, aber getrennt
lebende Frau an. Sie habe mehrere Ordner gefunden, in
denen unsere Korrespondenz abgeheftet war, dabei einen
Lebenslauf von mir. Jetzt habe ich einen Biografen
im Himmel.
Die Bücher im NordPark Verlag:

Totenwache |

Die Erfindung des Augenblicks |

Stehcafé |

Die alten
Soldaten |

Geklopfte
Sprüche |

Sandsturm - Die
gezähmte Armee |

Lass uns
nie erwachen |
Nackte Hunde |

Hungrige
Könige |

Siebenschläfer |

Inmitten der
Rätsel |

Das Privileg |
Die Titel des Nordpark-Verlages können über jede gute Buchhandlung bezogen werden.
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