Karl Otto Mühls Geschichten aus dem Stehcafé erzählen aus dem echten Leben.
Sie sind schön, diese Geschichten, sie sind schräg, auch oft sehr traurig und nachdenklich. Sie erzählen von den unterschiedlichsten Menschen, die das Stehcafé bevölkern.
Und davon, dass es sie wirklich noch gibt, die Momente des Glücks.
Leseprobe
Neue Stehcafé-Geschichten
Noch ist die Straße still, an der die Bäckerei
liegt. Die schweigsame Frau, die an jedem
Morgen hier eine Zeit lang draußen hin
und hergeht und drinnen zum Schluss zwei Brötchen
kauft, kommt gerade heraus und nimmt ihren kleinen
Hund vom Mauerhaken.
Alles kann so bleiben wie es ist, still und sonnig, das
ist angenehm, aber andererseits soll möglichst etwas
passieren, das ist auch klar. Aber, wie auch immer wir
es ansehen, das Ende wird uns nicht gefallen, fällt mir
ein – wie oft in ruhigen Augenblicken. »Am Schluss
kriegen sie jeden bei den Hammelbeinen«, hat gestern
ein Kaffeetrinker neben mir gesagt. Kein fröhlicher
Gedanke zum Tagesanfang, doch alle trüben Gedanken
hier tragen das Etikett »Noch nicht«. Mit diesem
Trost muss man sich wohl zufrieden geben.
Jetzt gehört der Dreieckstisch, auf dem ich die Zeitung
ausbreite, noch mir allein, doch es bleibt nicht
lange so.
Ich werde hinweggeschwemmt vom Ansturm
meiner Kaffeegesellen in Blau, Schwarz und Grün:
Rohrleger, Tapezierer, Dachdecker, Straßenbauer und
Gärtner, alle auf einmal.
Sie alle drängen sich hier auf weniger als zehn Quadratmetern
Verkaufsraum um unseren Dreieckstisch,
stehen vor dem Schaufenster, sitzen in den aufgestellten
Aluminiumsesseln auf dem Gehsteig. Ich lasse
mich nicht vertreiben, stehe wie schon oft inmitten
von lauter Muskelmännern, von denen ich die Hälfte
schon lange kenne. Auch ihnen bin ich schon länger
kein Fremder mehr.
Nun komme ich nicht mehr zum Nachdenken. Ich
werde aufgesogen von Gesprächen, Eindrücken, Empfindungen;
ich gehöre dazu.
Ich bin gefesselt von dem Bericht über einen Bodybuilder,
der vor Gericht steht, und zwar wegen
Drogendelikten. Gleich schreite ich zu seiner Verteidigung,
zur Verteidigung eines Schwächeren, wie ich
zu fühlen meine – wem hat er denn wirklich Leid zugefügt?
Also, das ist doch keine Frage! Rauschgifthandel.
Aha. Dealer. Ja dann ...
Einer kennt einen, der hat Diabetes von den Anabolika
bekommen.
Dann allerdings.
»Der Kerl kriegt bestimmt keine Kinder mehr«,
meint ein anderer. Ich horche auf. »Kampfsport? Tritte
in die Leistengegend?«, will ich wissen. »Hat er es
dadurch?«
»Unsinn. Dieses Zeug macht die Dinger kaputt.«
»Dann müssen wir sofort damit aufhören«, sage ich
todernst, und alle lachen. Zwei Lebensjahre will das
Gericht ihm wegnehmen, denke ich mitleidig. Wo er
doch schon geschädigt ist. Die Leute hier müssen es
ja wissen, zumal ein Kampfkunst-Sportler neben mir
steht. Aber der blickt heute nur versonnen vor sich
hin.
Jetzt sagt er etwas: »Der Mann leitet auch einen
Verein.«
Wir haben wieder ein Thema. Die Vereine seien
selbst schuld, dass ihnen die Mitglieder davonliefen.
Sie hätten keine eigenen Räume, keinen Ort, wo sich
die Mitglieder zu Hause fühlten.
Das stimme zwar, werfe ich ein, aber die Gründe
lägen tiefer. Früher seien von den Vereinen geistige
Impulse ausgegangen – und ohne die verkäme der
Sport zum Jahrmarkt –, sie hätten längst nicht mehr
das Gefühl, etwas Wichtiges und Gutes zu tun. Die
Vereine hätten einmal für Befreiung, Emanzipation
und Aufklärung gestanden, für den Patriotismus des
Turnvaters Jahn, der allerdings ein Antisemit war,
aber immerhin, sie hätten auch mehr getan, als nur
die Knochen bewegt.
Achtungsvolles Kopfnicken.
»Auf jeden Fall hat der Nationalspieler Philipp
Lahm geheiratet«, erwähnt jemand unvermittelt.
»Meinen Segen hat er«, sagt der Kampfkunst-Meister
neben mir.
Na? Hat er etwas dagegen?
»Überhaupt nicht«, behauptet er. Er sei ja verheiratet,
lebe aber getrennt. So sei er ziemlich glücklich.
»Alles Quatsch«, sagt mein Nebenmann leise zu mir.
»Der hat doch immer das Gefühl, auf etwas zu warten.
« Er wischt sorgfältig einige Krümel vom Tisch.
»Gut erzogen«, sage ich. Ich meine die Krümel.
»Immer schon. Von zu Hause.«
Ich stimme ihm zu.
»Man muss sehen, dass man gut miteinander auskommt
und sich aufeinander verlassen kann«, fährt
er fort.
»Mit der Ehefrau? Ist das Ihr Ernst?«, frage ich. Echte
Männer lästern schließlich lieber, damit rechne ich
hier.
Das sei sein Ernst. »Prima«, sage ich. Ich dächte das
auch. Wieder wischt er sorgfältig über die Tischplatte,
auf der längst keine Krümel mehr liegen. »Jetzt muss
mit dem Wischen Schluss sein«, sage ich. »Es ist alles
sauber.«
»Ja, ja«, sagt er. »Schrecklich. Zu Hause mache ich
das auch immer.«
Ich mache mich auf den Weg in den Wald, der
zweihundert Meter weiter beginnt. Noch strotzt er
vor Grün, Sonnenlicht fließt in seine dunklen und
dämmernden Ritzen; der Wald wird mir das Gefühl
geben, an seinem Reichtum teilzuhaben.
Vor Monaten ist er mir einmal begegnet, der
entfernter wohnende Nachbar, den ich für
mich immer den knochigen Stummen nenne.
Sein Gesicht ist nämlich knochig, aber deswegen
ist er nicht hässlich; im Gegenteil, er ist ein kräftiger,
gutgewachsener Mann.
Ich war damals stolz, dass ich ihn bis zum Grüßen
gebracht hatte, aber damit habe ich mich für lange
Zeit zufriedengeben müssen. Doch heute, als ich
zu einem kurzen Morgenkaffee in der Bäckerei am
Waldrand einkehren will, entdecke ich ihn plötzlich
wieder. Er sitzt vor dem Schaufenster an einem Tisch
im Freien, und ich setze mich auf den leeren Platz
neben ihm.
Er beginnt sogar ein Gespräch mit mir, es geht
ums Wetter-Genießen. Ich hake ein: Hat er Ferien?
Die Kurzarbeit ist doch allgemein vorbei?
Nein, es ist ganz anders. Er ist arbeitslos.
Au weh. Mein Blick fällt auf seinen Opel Tigra am
Straßenrand. Den leistet er sich also noch. Ich weiß,
er fährt ihn schon lange. Der Wagen ist gepflegt.
Auf meine Frage antwortet er, dass er Maschinenschlosser
sei – klar, es gebe Stellen. Aber er sei jetzt
dreiundsechzig, da könnte es schwer werden, etwas
zu finden.
Ich hatte ihn für jünger gehalten.
Er möchte ja aufhören mit dem Arbeiten, aber seine Rente werde verdammt knapp ausfallen. Er habe
»nicht hoch geklebt«.
Vielleicht braucht er einen Zusatz-Job?
»Ja, kann sein«, antwortet er. Aber zunächst habe er
ein anderes Problem.
»Welches?«
Als er noch arbeitete, ging es ja, sagt er. »Aber jetzt
bin ich den ganzen Tag allein. Ich suche eine Frau.«
Da bin ich erstaunt. In all den Jahren bisher habe
ich ihn viele Male aus seinem Haus gehen sehen und
wiederkommen, aber nie war eine Frau in der Nähe.
Doch, einmal war eine alte Frau bei ihm, die er später
in sein Auto steigen ließ. Vielleicht die Mutter, die
er nach Hause fuhr. Was für Gefühle wird er für sie,
wird er für Frauen haben, von gängigen Männerfantasien
abgesehen? Hat er Angst vor ihnen, fürchtet er
Ohnmacht oder Versagen? Glaubt er nicht gut genug
zu sein? Oder – fürchtet er Aufdeckung? Dass von einer
Frau plötzlich etwas an ihm bemerkt wird, was
er selbst nie sehen wollte, ein Stachelkleid, das dem
eigenen Blick verborgen bleibt?
Plötzlich tut er mir leid. Ein schwerfälliger Mann,
sparsam mit Worten, unfähig, über Gefühle zu sprechen.
Welches Wunder müsste geschehen, damit jemand
das Liebenswerte an ihm entdecken könnte?
Ob er denn schon einmal verheiratet war?
Nein. Das gerade nicht.
Diese Tatsache scheint ihm überhaupt nicht verdächtig
zu sein. Ich will ihn aber nicht ausfragen, diese
Rolle will ich mir nicht anmaßen. Er hat es ja schon
gesagt, er merkt halt erst jetzt, dass er mit jemand reden
möchte. Das ist das Wunderliche, nämlich, dass
es so lange gedauert hat bei ihm. Und in mir entsteht
ein Monumentalbild, ein wüsteneinsamer Mann mit
hoffnungslosem, knochigen Gesicht, der im prallen
Sonnenlicht steht und nach Nähe hungert.
Er wird nicht wissen, woran es lag, denke ich. Bis
er sich mit jemand über seine Einsamkeit verständigen
kann, bis dahin ist es so weit wie von hier nach
Grönland.
Er solle mir unbedingt berichten, wie es nun weitergehe
mit ihm, sage ich. Mehr fällt mir nicht ein.
Er nickt ernsthaft.
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