Reinhard Giebel
Schifffahrt im Schritttempo.
Allerlei Kurzweil.
Kurzgeschichten
Die Besonderen Hefte
Heftbroschur mit Schutzumschlag
Fadenheftung, 68 S., Euro 9,00
ISBN: 978-3-943940-45-9
Die Besonderen Hefte werden eigenhändig in der Werkstatt des NordPark Verlages gesetzt, nach Bedarf in kleinen Auflagen auf dem Werkdruckpapier Schleipen gedruckt, dann handgefalzt und handgeheftet und in den Schutzumschlag aus dem feinen Schleipen-Vorsatzpapier des Papierherstellers Cordier aus Bad Dürkheim eingeschlagen.
Flyer
Kurzweilige Unaufgeregtheit
Wer Hintergründiges liebt und Vordergründiges mag, der sollte sich in Reinhard Giebels neuen Texten wohlfühlen. Episoden, Sprüche, kurze Geschichten und erstaunliche Dramolette, Filme, die wahrer sind als ihre Erfindung, alles sprachliche Schnittmengen, die Reinhard Giebels behutsame Sezierung des Alltags und seiner Un- und Anfälle in geradezu kurzweiliger Unaufgeregtheit zeigen ...
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Leseprobe:
Teil 2: Rund ums Stadtviertel
Episode 1
Ich packe Papierabfälle und leere Flaschen in zwei große Einkaufstaschen und mache mich auf den Fußweg zur nächsten Abfall-Container-Sammelstelle, 400 Meter entfernt.
Dort angekommen, werde ich ›empfangen‹ von zwei achtjährigen Jungen, die mich verlegen angrinsen. Sie krabbeln auf dem Erdboden herum, einer tastet mit einer Hand in die Lücke unter dem Papier-Container, während ich meinen Abfall entsorge. Auf meine Frage: »Was gibt’s denn?« antwortet er: »Unter dem Container ist ein besonders wertvolles Stück Pappe!« Beide grinsen mich wieder an.
Ich überlege einige Sekunden lang, auf welche Art ich tätig werden soll: interessiert, pädagogisch oder besserwisserisch. Schließlich – es ist der 15. Juli – sage ich »April, April!« und mache mich auf den Rückweg.
Episode 2
Siegfried Borris (1906-1987) war ein Berliner Komponist Neuer Musik und Musikwissenschaftler. Er studierte unter anderem Komposition bei Paul Hindemith und arbeitete bereits ab 1929 als Dozent am Seminar der Berliner Hochschule für Musik. Im Jahre 1933 (dem Jahr der ›Machtergreifung‹) wurde Borris – er war Sohn eines Juden – aus der Hochschule ausgeschlossen.
Nach dem Ende des II. Weltkriegs kehrte er als Professor an die Universität zurück, übernahm den Aufbau des Lehrerseminars und spielte fortan eine gewichtige Rolle im (West-)Berliner Musikleben als Komponist und Pädagoge.
Mein heutiger Spaziergang führt mich über die langgestreckte Thomas Mann-Allee vorbei am Siegfried Borris-Hof, einer Ansammlung von acht einstöckigen Reihenhäusern, einer ruhigen und gepflegten Siedlung. Ein flüchtiger Blick auf das Straßenschild sagt mir, dass sich dort etwas verändert hat. Ich sehe genauer hin und lese den Text: »Siegfried Borris-Hof / Siegfried Borris: Deutsch-jüdischer Komponist Neuer Musik (1906-1987)«. Das Wort »jüdischer« ist überklebt worden mit einem Stückchen weißen Papiers, das nicht ganz deckt. Was soll ich davon halten? Ist dies nun eine Wichtigtuerei, eine Provokation oder gar ein rassistischer Angriff?
Vier Tage später unternehme ich den gleichen Spaziergang – der weiße Aufkleber ist entfernt worden.
Episode 3
Auf meinen Spaziergängen begegnete ich ziemlich regelmäßig einem älteren Paar, das zwei Hunde ausführte. Allmählich grüßten wir einander, und schließlich kam der Tag, an dem wir ein erstes Gespräch begannen, bei dem wir uns dann auch gegenseitig vorstellten. Das Ehepaar Dabrowski war gebürtig aus Polen – aus Krakau – und inzwischen mit der deutschen Staatsangehörigkeit versehen. Das Reden übernahm ausschließlich der Mann, die Frau blieb ausschließlich stumm. So erfuhr ich viele interessante Neuigkeiten aus Polen, viel Positives, aber auch manch Kritisches.
Zu Hause dachte ich über unsere Unterhaltungen nach, und mir fiel ein, dass ich es schon wiederholt bedauert hatte, zu keiner osteuropäischen Sprache einen Zugang zu haben. Bei unserem nächsten Zusammentreffen sprach ich deshalb Herrn Dabrowski an und fragte ihn ziemlich direkt, ob er es sich vorstellen könne, mir Polnisch-Unterricht zu erteilen; das notwendige Lehrmaterial würde ich selbstverständlich besorgen. Er überlegte einen kurzen Augenblick und sagte dann zu mir, nicht unfreundlich: »Das hat überhaupt keinen Sinn. Ich bin als Lehrkraft völlig ungeeignet. Schlagen Sie sich das bitte aus dem Kopf«.
Das habe ich dann getan.
Episode 4
An einem sonnigen Mittwochnachmittag beschließe ich, einen Spaziergang zum Belvedere-Park zu unternehmen. Ein Blick aus dem Fenster sagt mir: Als Oberbekleidung wird ein T-Shirt genügen.
Im Wäscheschrank ergreife ich vom bereitliegenden Stapel das oberste Hemd, ein Kleidungsstück, das ich mir einst bei einem Besuch in London kaufte: Schwarz, auf der Vorder-und Rückseite mit einem jeweils unübersehbaren Aufdruck versehen: »London, U.K.».
Der Park ist ›besetzt‹ von modischen Aktivisten: Nordic Walkers, Skateboarder, Smart Phone Users, auch Radfahrer – Verzeihung: Bikers! – wohin man blickt. Aber, wie ich zu meiner Verblüffung feststelle, scheine ich mit meinem T-Shirt einige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
Ein junger Vater, an der Hand sein vierjähriges Söhnchen, spricht mich an und erklärt mir den Weg zur Hauptstraße. Ein älterer Herr weist mich freundlich auf eine Sehenswürdigkeit am anderen Ende des Parks hin: Einen kleinen Teich. Ein Mitarbeiter der Stadtwerke – in Uniform – fragt mich, in holprigem ›Broken English‹, wie mir die Stadt gefällt, da wird mir endlich schlagartig klar: Man hält mich für einen Engländer! Ich antworte auf Deutsch, worauf er mir bescheinigt, dass ich recht gut Deutsch spreche.
Episode 5
Ich finde in meinem Briefkasten einen Brief, der nicht an mich, sondern an einen anderen Empfänger adressiert ist. Nur die Hausnummer und die Postleitzahl treffen auch auf meine Person zu, das heißt, der Postbote hat die Straßen verwechselt.
Ich mache mich auf den Fußweg zur Helgolandstraße, etwa 10 Minuten entfernt, und betätige die Klingel zur Wohnung der angegebenen Person. Eine junge Frau öffnet mir und fragt mich freundlich, was ich möchte. Als ich antworten will, erscheint ein etwas kleinerer Mann, offenbar der Ehemann, mit einem dreijährigen Mädchen an der Hand, das sich ›schützend‹ vor ihn stellt. Er schaut mich an mit einem misstrauischen Blick, die Stimmung kippt und wird urplötzlich ein wenig feindselig.
Ich ziehe den Brief aus meiner Manteltasche und erkläre, worum es geht. Die beiden Erwachsenen haben offensichtlich Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Daher setze ich zu einer neuen, einfacher formulierten Erklärung an – und nun haben sie verstanden! Die Stimmung schlägt erneut um, aber diesmal erscheint ein Lächeln auf ihren Gesichtern; die Frau nimmt den Brief entgegen, die beiden scheinen den Absender zu kennen. Sie bedanken sich überschwänglich bei mir und wünschen mir noch einen schönen Tag.
Episode 6
Auf dem Weg zum einzigen Post-Briefkasten im Viertel komme ich in der Böhmerstraße vorbei an der Kneipe »Vier Null«, die sich vor allem dem Volkssport Fußball verschrieben hat. Ein Aushang im Schaufenster macht das sehr deutlich: »Freibier für jedes erzielte deutsche Tor, außer beim Elfmeterschießen«. Der aktuelle Anlass für dieses Angebot ist eine Fußball-Europameisterschaft für Nationalmannschaften, die gegenwärtig in Schweden stattfindet.
In einer halben Stunde soll die TV-Übertragung eines Spiels der deutschen Nationalmannschaft beginnen.
Einige Fußballfans und Gäste der Kneipe stehen im Eingang – mit einem Glas Bier in der Hand – und diskutieren über die deutschen Erfolgsaussichten. Einer von ihnen, Heimo R., unser ›Haus-Elektriker‹, ruft meinen Namen. Er fordert mich auf, mich zur Gruppe zu gesellen. Nach 10 Minuten Smalltalk bewegen wir uns ins Innere der Kneipe, setzen uns und verfolgen am Fernseher die Vorbereitungen auf das Match.
Die interessieren allerdings reichlich wenig – die Experten-Kommentare werden als überflüssig empfunden, da man ja selbst Experte ist!
Aus diesem Kreis von ›Fachleuten‹ hebt sich ein Wichtigtuer heraus, der nun wirklich alles noch besser weiß als jeder andere. Ziemlich schnell kommt er auf seinen Lieblingsverein Bayern München zu sprechen und will gar nicht mehr aufhören damit. Als er dann bei der Ikone Franz Beckenbauer angekommen ist, beschließe ich, ihn zu provozieren. Ich sage zu ihm: »Sie können es drehen und wenden wie Sie wollen, aber Sebastian Schweinsteiger war und ist allemal ein weit besserer Fußballer als Franz Beckenbauer es je war«. Er muss zweimal schlucken, bevor er mir antworten kann: »Ich wüsste nicht, was ich mit Ihnen noch zu besprechen habe!«
Ich weiß es auch nicht; ich bezahle meine zwei Glas Bier und gehe.
Episode 7
Wenn ich die Bürgerstraße hinuntergehe und dann rechts in eine Kurve einbiege, stehe ich immer wieder unverhofft vor einem wunderschönen Haus, einer Villa im Bergischen Stil, von der ich annehme, dass sie um 1910 gebaut wurde.
Das 2½-geschossige Gebäude in asymetrisch-quadratischer Form lässt erste Ansätze zum Jugendstil erkennen. Die Außenwände im Erdgeschoss sind weiß gestrichen, das erste Stockwerk sowie das Dach grau geschiefert. Die Dachfenster sind spitzgotisch ausgeprägt, und das typisch Bergische wird unterstrichen durch die grünen Fensterläden im Dachbereich. Eine Steintreppe führt zur Haustüre hinauf.
Eine etwa 50-jährige Frau öffnet gerade den Hausbriefkasten und entnimmt ihm die eingegangene Post. Ich entschließe mich, sie anzusprechen und frage sie, ob ich sie etwas fragen dürfe. Ein wenig zögerlich kommt sie zur Eingangstür und ich versichere ihr, dass dieses Haus weit und breit das schönste in dieser Gegend ist. Sie wirkt überrascht und ein wenig verwirrt. Ich verabschiede mich – sie wünscht mir einen wunderschönen Abend.
Episode 8
Heute habe ich eine Verabredung um 15:45 bei einem Arzt, dem Urologen Dr. Merz. Mein Erscheinen zu dem vereinbarten Zeitpunkt ist angeblich sehr wichtig.
Ich lege mir den ›Fahrplan‹ zurecht: Ich werde bis zur Bushaltestelle Schleusinger Straße gehen; der Fußweg wird ungefähr 25 Minuten dauern, dort werde ich dann einen Bus der Linie 811 besteigen und 15 Minuten später bei dem Arzt eintreffen.
Als ich zur Schleusinger Straße komme, weist mich ein Schild darauf hin, dass die Haltestelle aufgrund von Bauarbeiten für ein paar Tage gesperrt und außerdem verlegt worden ist in die Eulengasse, eine Parallelstraße. Ich mache mich auf den Weg dorthin und werde dabei von dem in Frage kommenden Bus überholt, der offenbar auf meine Mitfahrt verzichten kann.
Ich bin nun absolut ratlos. In der Nähe befindet sich zwar ein Taxistand, doch parken dort momentan keine Fahrzeuge. Ich überlege hin und her, was ich tun kann, um nicht zu spät zum Arzt zu kommen.
Dann tue ich etwas, was ich mir noch nie zuvor erlaubt habe, nämlich einen wildfremden Auto-Fahrer um einen ungewöhnlichen Gefallen zu bitten. Dieser sitzt in einem Kleinwagen inmitten einer Autoschlange, die sich vor einer Abbieger-Ampel gebildet hat. Ich fasse mir ein Herz, gehe quer über die Fahrbahn zu dem Auto, klopfe an die Beifahrertür und frage den Fahrer, ob er mich zu einem Taxi-Fahrpreis zu einem bestimmten Ziel mitnehmen könnte. Er bittet mich einzusteigen, und ich erkläre ihm meine Situation.
Der Fahrer spricht mit einem slawischen Akzent, und auf meine Frage, ob er aus Russland oder aus Polen komme, antwortet er mir: »Ich komme aus Russland, ich bin Russlanddeutscher!« Mit einiger Bitterkeit fügt er hinzu: »In Russland waren wir Nazis, in Deutschland sind wir heute Russen«.
Wir fahren bis zu meinem Wunschziel, und als ich ihm einen Geldschein als eine Art Taxi-Fahrgeld geben will, lehnt er die Annahme strikt ab.
Episode 9
Ich lese gerade in einem Gesundheitsbrevier, wie man gesund und fit durch den Herbst kommt. Dazu gehört unter anderem, den Körper mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen, d.h., pro Tag mindestens 2 Liter zu trinken, und in puncto Bewegung wird täglich 30 Minuten körperliche Aktivität angeraten. Danach richte ich mich allerdings seit langem.
Da mir heute für einen anregenden Abend noch ein Fläschchen Rotwein sowie ein bunter Salat fehlt, entschließe ich mich, zum Miraculix–Supermarkt zu Fuß zu gehen und dort einzukaufen. Von meiner Wohnung bis zu dem Geschäft benötige ich exakt 15 Minuten. Das wären für den Hinweg und retour schon einmal 30 Minuten, und auf die Art hätte ich mein Pensum bereits abgeleistet.
In der Gemüseabteilung treffe ich auf einen aufdringlich lauten Handy-Dauertelefonierer, durch den das Einkaufen zur reinen Freude wird. Ich wage es, ihn anzusprechen und frage ihn, ob er eine SuperFlatrate gebucht hat. Als ich mir einen Kopf Salat aussuchen will, verpasst mir dieser Herr einen heftigen Schlag in den Rücken.
Die Filialleiterin und ein junger Angestellter stehen neben der Tiefkühltruhe und unterhalten sich. Sie tätschelt ihm die Wange mit den Worten: »Denk dran, Schnucki, wenn die Lieferung kommt!« Ich kann mich nicht zurückhalten und sage: »Das ist ja ein vorbildliches Betriebsklima hier!« Die beiden stutzen einen Augenblick und lachen dann etwas verlegen.
Als ich mich in die Warteschlange vor der Kasse 2 eingereiht habe, erscheint ein heimatloser Geselle (Synonym: »Penner«) mit einer leeren Schnapsflasche, geht wortlos an der Kasse vorbei zur Spirituosen-Abteilung, stellt die Flasche dort im Schnaps-Regal ab, nimmt sich eine volle und geht wieder an der Kasse vorbei Richtung Ausgang. Die Kassiererin hat den Vorgang beobachtet, ist außer sich, springt auf, verfolgt ihn und stellt ihn zur Rede. Er knickt ein und gibt die Flasche zurück.
Ich bezahle und trete den Heimweg an.
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