Ernst Höllerhagen.
Ein Leben in Bildern
* 5. Oktober 1912 in Barmen
† 11. Juli 1956 in Interlaken, Schweiz
Interlaken, Schweiz: An einem warmen Sommermorgen
des 11. Juli 1956 setzt der Jazzmusiker, Entertainer
und Bandleader Hazy Osterwald eine Probe an. Eine
neue Eigenkomposition soll einstudiert werden. Fünf
Musiker des Sextetts sind versammelt. Einer fehlt: Ernst
Höllerhagen. Das ist ungewöhnlich; Höllerhagen ist stets
als Erster da und spielt sich warm für die Probe. Die Band
macht sich auf die Suche, man klopft an der Zimmertür.
Da kein Lebenszeichen aus dem verriegelten Raum dringt,
entschließen sich die Musiker, die Tür gewaltsam zu öffnen.
»Wir fanden ihn aufgehängt, tot in der Toilette.«
Hazy Osterwald mit Engelbert Wrobel (cl) und Oliver Mewes (dr.).
2002 in Kevelaer. In der Konzertpause erzählte Hazy Osterwald über
seine Erinnerungen an den Freund und langjährigen musikalischen Wegbegleiter
Ernst Höllerhagen
Nahezu ein halbes Jahrhundert später erinnert sich ein
83-jähriger Mann in einem Hotelzimmer irgendwo in der
niederrheinischen Provinz an den Tag, an dem sein Freund
und langjähriger musikalischer Wegbegleiter Ernst Höllerhagen
freiwillig aus dem Leben schied. Für Osterwald, der sich
auf einer Konzert-Tournee befindet und seine Zuhörer auf
eine nostalgische Reise in die Swing-Ära der Nachkriegszeit
mitnimmt, gleitet das Damals während dieser Spielpause
langsam zurück in die Gegenwart: »Es war ein schrecklicher
Moment. Kein Mensch hätte daran gedacht. Er war beliebt,
man hatte ihn gern, den Ernst. Nicht nur Leute, die Musikkenner
waren und ihn bewunderten, auch andere Menschen,
die ihn einfach gern hatten. Er war ein herrlicher Kerl. Ich
hatte auch meine Zwiespälte mit ihm. Manchmal. Aber wir
waren Freunde und liebten uns mit der Musik.«
In der Erinnerung tauchen die Gespenster wieder auf,
die Höllerhagen in jener Zeit immer häufiger aufsuchten.
»Der Ernst war mit uns im Zimmer und erzählte, er hätte
geträumt, er wäre in die Aare gesprungen. Und ich sagte darauf,
dass er überlastet sei, und habe ihm vorgeschlagen,
zwei Tagen mit mir in die Ferien nach Italien zu kommen. Er
schien damit ganz zufrieden zu sein. Doch am nächsten Tag
sagte er wieder, er hätte Depressionen, fühle sich nicht gut.
Ich sagte dann zu ihm: ›Geh doch mit dem Dennis (Dennis
Armitage war der Saxophonist der Band) auf ein Zimmer,
dass ihr miteinander sprechen könnt.‹ Er sollte sich nicht
einsam fühlen, der Ernst.«
Ob es die Einsamkeit war, die Höllerhagen in den Freitod
getrieben hat? Höllerhagens große Liebe und Ex-Frau Gret
ist schon vor etlichen Jahren in die USA gegangen. Gesehen
hat er sie seitdem nicht mehr, auch die gemeinsame Tochter
bleibt für den Musiker eine Verschollene. Verwandte sind
nicht in der Nähe. Das unstete Wanderleben der Musiker.
Die Kontakte zu den Familienangehörigen in Deutschland
sind im Schweizer Exil lose geworden. Höllerhagens Heimat
war der Jazz.
Auf seinem letzten Gang wird Ernst Höllerhagen von
zahllosen Menschen begleitet. Der Musiker wird neben
der Tochter von Mendelssohn beerdigt. Im Kondolenzbrief
schreibt Hazy Osterwald an Martha Blockhaus, die Schwester
des Verstorbenen: »Tausende von seinen Freunden im
In- und Ausland waren erschüttert von der Kunde, und von
weither sind die Menschen zu seiner Beerdigung angereist.
Unendlich viele Blumen und Kränze zeugten davon, wie
sehr er überall beliebt war. Wir alle, die über Jahre lang mit
ihm gelebt haben, werden ihn im steten besten Andenken
bewahren.«
Das WZ-TV-Feature: Jazz unterm Hakenkreuz
Ein Literatur & Jazz Textkonzert. Video von der Live-Inszenierung der Ernst Höllerhagen Story.
Mit einem Gespräch mit den Autoren über Höllerhagen und das Textkonzert
Direktlink
Kurt Hohenberger und sein Solisten-Orchester vom "Quartier Latin", Telefunken A 2567
Matritzennummer: 23080
Aufnahmedatum: 27.04.1938
Besetzung:
Kurt Hohenberger (tp, ld)
Ernst Höllerhagen (cl, as, v)
Helmuth Friedrich (ts, cl)
Fritz Schulz (p)
Hans Korseck (g)
Rudi Wegener (b)
Hans Klagemann (d)
Kut Hohenberger und sein Solisten-Orchester vom "Quartier Latin",Telefunken A 2567,
Matritzennummer: 23080, Aufnahmedatum: 27.04.1938, Besetzung: Kurt Hohenberger (tp, ld), Ernst Höllerhagen (cl, as, v), Helmuth Friedrich (ts, cl),
Fritz Schulz (p),
Hans Korseck (g), Rudi Wegener (b), Hans Klagemann (d)
Heiner Bontrup & Dieter E. Fränzel
Die Ernst Höllerhagen-Story
Wiederentdeckung einer Swinglegende
Ein Jazz-Musiker zwischen Nationalsozialismus
und Wirtschaftswunder
Mit Diskographie (1934-1955)
Paperback, 184 Seiten, 85 Abbildungen
Euro 15,00 [D]
ISBN: 978-3-935421-42-3
Im Juli 1933 ist Ernst Höllerhagen wieder in Holland,
diesmal spielt er in der holländischen Band ›Swantockers‹,
die von dem Saxophonisten Antoon Swaan und Schlagzeuger
Eliazer ›Eli‹ Tokkie geleitet werden. Ein halbes Jahr lang
dauert das Engagement, das ihn u.a. nach Den Haag ins
Westend Theater, nach Utrecht ins Rembrandt Theater und
nach Rotterdam führt, dann kehrt Höllerhagen zunächst
nach Deutschland zurück.
Doch nach kurzer Zeit zieht es Ernst Höllerhagen erneut in
die Niederlande. Als Anfang 1934 der Pianist Melle Weersma
eine eigene Band zusammenstellt, holt er den deutschen Saxophonisten
nach Holland. Vom 1. Februar 1934 an spielt das
Melle-Weersma-Orchester für drei Monate im »La Gaité« in
Amsterdam, dem Cabaret und Tanzrestaurant des legendären
Tuschinski-Filmtheaters. Die zwölfköpfige Band, die unter
dem Namen »Melle Weersma & his Red, White and Blue
Aces« auftritt, macht schnell Furore.
Melle Weersma und sein Orchester in Scheveningen
Der Jazz-Journalist
Bob Schrijver ist begeistert. In der Februar-Nummer von De
Jazzwereld 1934 schreibt er: »Mehrere Male in der Woche
kamen aus verschiedenen Teilen unseres Landes prominente
holländischen Jazzmusiker bei Tuschinski zusammen, um
auf der großen Bühne zu üben. Hier thronte Melle Weersma
am Flügel inmitten seiner Musiker. Es wurde eifrig geübt,
um Weersmas Arrangements so vollkommen wie möglich
wiederzugeben.« Insbesondere lobt Schrijver die Saxophon-
Section, bei der Höllerhagen mit von der Partie ist: »Die vier
Saxophonisten bildeten eine Gruppe, die, was das Zusammenspiel
und die Soli betrifft, einzigartig genannt werden
kann. Außer auf der Platte von Ellington selbst, hatten wir
›Sophisticated Lady‹ noch nie so ›sophisticated‹ gehört.«
Melle Weersma on tour. Mit Ernst Höllerhagen (2. von links).
Das Konzert des Melle Weersma-Orchesters am 11. März
1934 ist eine Reminiszenz an den Duke des Jazz: In
Rhythm«, »Black And Tan Fantasy« und »It Don’t Mean
A Thing« haben die Solisten Eddie Brunner und Ernst
Höllerhagen reichlich Gelegenheit, ihre Talente als Jazz-
Improvisatoren zu zeigen. Begeistert verfolgen die mehr als
400 Jazzliebhaber im »La Gaité« die musikalischen Darbietungen.
Der Journalist Bob Schrijver kommentiert:
»Noch nie hat eine Band in unserem Land solche anerkennenden
und ernsthaften Kritiken bekommen. Sogar in Amerika, dem
Geburtsland des Jazz, ist man selten oder nie imstande gewesen,
ein solches ›Avantgarde‹-Konzert zu organisieren. In
keinem Land der Welt hat die wahre Hot-Musik prozentual
so viele Anhänger wie in unserem Land.«
The Swantockers, Antoon Swaan (2. von links), Eliazer ›Eli‹ Tokkie (5. von links); Holland 1933. Die Spuren der jüdischen Swingmusiker verlieren sich nach der deutschen Invasion in Konzentrationslagern. Mit ihnen spielte Ernst Höllerhagen (4. von links).
Vielleicht zeichnet Bob Schrijver ein zu schön gefärbtes
Bild der damaligen kleinen niederländischen Jazz-Welt. Doch
er kann nicht ahnen, welches Unheil seinem Land und der
Musik droht, über die er mit so viel Enthusiasmus schreibt:
Der Saxophonist Antoon Swaan und der Schlagzeuger »Eli«
Tokkie, die Herzkammern der Swantockers, bei denen Höllerhagen
gespielt hatte, werden der nationalsozialistischen
Fremdherrschaft zum Opfer fallen. Die jüdischen Musiker
sterben nach ihrer Deportation in einem KZ. Ein Schicksal,
das sie mit vielen anderen holländischen Juden und Jazzmusikern
teilen.
Jack Alban & Ernst Höllerhagen
Den Haag, Pfingsten 1932
Ernst Höllerhagen (2. von links), Jack Alban (2. von rechts)
Hazy Osterwald mit Engelbert Wrobel (cl) und Oliver Mewes (dr.).
2002 in Kevelaer. In der Konzertpause erzählte Hazy Osterwald über
seine Erinnerungen an den Freund und langjährigen musikalischen Wegbegleiter
Ernst Höllerhagen.
The Swantockers, Antoon Swaan (2. von links), Eliazer ›Eli‹ Tokkie (5. von links); Holland 1933. Die Spuren der jüdischen Swingmusiker verlieren sich nach der deutschen Invasion in Konzentrationslagern. Mit ihnen spielte Ernst Höllerhagen (4. von links).
Melle Weersma und sein Orchester in Scheveningen.
Melle Weersma on tour. Mit Ernst Höllerhagen (2. von links).
Wird fortgesetzt. Besuchen Sie uns bald wieder!