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Leseprobe



Peter Beicken
Peter Beicken, im Mai 1943 in Wuppertal-Barmen geboren, kurz vor dem ersten großen Luftangriff. 1947, nach Jahren in Hammerstein, zieht die Familie – der Vater ist im Januar gerade aus englischer Kriegsgefangenschaft in Kanada zurückgekehrt – nach Vohwinkel, weiter in den Westen der Stadt. Das Leben auf der »Insel« zwischen Rangierbahnhof, Fahrzeugfabriken und dem freien Feld wird Wohnplatz und Erkundungsort. Streifzüge führen durch die Umgebung, folgen dem Rhythmus der Landschaft mit ihren Industrieeinschnitten. Häufige Fahrten mit dem Zug und der Schwebebahn in die Stadt – die Großeltern wohnen in Unterbarmen – öffnen die Augen für das Tal, das zu Anfang noch unvergeßlich zerstörte. Der Besuch des Gymnasiums in Vohwinkel. Die Bibliotheksbesuche, Theater und Konzert, das Museum. Eine Stadt stößt Fenster auf.
Gewiß, das Muckerhafte der Leute, aber auch Gewitzte. Die Sprache platt, eine handfeste Sache und in ihrer Derbheit schön. Der Vorort als Randzone, wie etwas aus der Vorzeit der Stadt. Das Studium führte ihn immer weiter weg. Zuerst nach Köln, dann Bonn, München, ab 1968 in Kalifornien. 1971 Promotion an der Stanford University, anschließend Dozent in Princeton, seit 1976 Associate Professor an der University of Maryland, College Park, neben der Hauptstadt Washington. Zahlreiche Buchveröffentlichungen.
1983 erhält er den Eduard von der Heydt-Förderpreis der Stadt Wuppertal für Kindheit in W. Im NordPark Verlag erscheinen 2001 die drei Gedichte Bach,dreifach. »Wuppertal ist für mich kein Klotz am Bein, aber auch keine Startbahn zum Fliegen. Die Stadt wie ihre Menschen viel zu ehrlich, macht sich und anderen nichts vor. Reell heißt das. Bei allem, was dort fehlt, recht viel. Im Nachhinein hab ich die Stadt drum gern. Wir lieben uns aus der Distanz.«


Leseprobe

wie ich so geworden bin (Auszug)

Die es getan hat, meine Mutter, trug mich an einem Sonntag im Mai den Berg hoch, Wehe auf Wehe in ihrem Leib. Den Schmerzberg hinauf zur Klinik am Toelleturm in Barmen. Muttertag 1943. Der sechzehnte Mai. Nach fünf der warme Sonnenschein auf Forsythien und Azaleen. Zwei Wochen später zerrissen Bomben die Klinik und zwei Drittel der Stadt. Ich überlebte im Luftschutzbunker, an den Mutterleib gepreßt. Als wir aufstiegen in die glimmende Asche, den beizenden Rauch, lernte ich hell dunkel unterscheiden. Ich spüre die Erinnerung an etwas, das sich nicht festlegen läßt: die unbekannte Angst. Als der Krieg aus war, kannte ich von den Farben die grauen, den Staub, die Trauer, die alten Uniformen. Mein erster Kletterberg war ein Trümmerhaufen. Die erste Rutsche führte in einen Bunkerschacht. Windpocken kamen von irgendwo und Flöhe, die auf mir lebten, kleine schwarze Punkte, zerdrückt von fremden Händen, von vertrauten. Wir aßen uns an Brennesseln satt. Die schlechte Zeit. Kartoffelschalen und Sauerampfer vom Wegesrand. Wir aßen und aßen. Es war nicht viel. Von den Verwandten am See in Bayern kamen Mehlpakete, ein Schinken, Wurst. Wie soll die Mutter hamstern gehn, wenn der Vater in Gefangenschaft. Die früheste wirkliche Erinnerung ist die Bahnfahrt nach dem Süden, auf Umwegen ging es nach Bayern. Alles in Dunkelheiten getaucht. Es ging wohl um den Endsieg. Ich lag auf einer Holzbank im Abteil. Das flackernde Licht muß mir in Erinnerung geblieben sein, nicht jene Photographiererei: ich, auf einem bayerischen Sofa im Babykostüm, geknipst vom Rußlandurlauber oder seinem Bruder, dem über Nacht weißhaarigen Stukaflieger. Zweijährig sitz ich dann am Goetheplatz in Hammerstein, auf der Ecke des Sandkastens, werfe die Arme hoch, lachend, froh. Deutschland hat kapituliert. Ich, das dicke Kind, vaterlos, von der Mutter genährt in der schlimmen Zeit, fröhlich, strohblond. Ihr liebstes Peterle. Die Sonne schien. Was wußte ich vom Frieden, den es nicht gab. Ich fiel vor lauter Lachen, Dicke von dem Holzbrett in den Sand, wurde gehalten, losgelassen, geknipst, fiel wieder hin. Hatte noch nicht laufen gelernt, ein Bettkind, das immer gehalten werden wollte. Dann der Dreijährige, das Lächeln arretiert von der Kamera der Nachbarn, die hießen Freund, und Mutter flüsterte immer, wenn sie über die Freunds sprach. In der Gartenmauerpose für den fernen Kriegsgefangenen, der nicht nach Hause schreiben durfte, wie gut es ihm ging in Kanada, weil das seine SS-Lagerbonzen nicht wollten. Der Feind bleibt auch nach der Einstellung feindlicher Handlungen ein Feind. Vater hatte einen roten Zorn und arbeitete in einem Holzfällerlager, wo die Militärschikane nicht mehr zog. Der rote Zorn wuchs sich zu einem Tobsuchtsanfall aus, als er nach der Heimkehr 1947 von der Mutter hörte, daß sie fast zwei Jahre lang nicht wußte, ob er die Gefangennahme in der Normandie überlebt hatte, weil alle Nachrichten aus Übersee von den Nazi-Behörden konfisziert wurden. Lieber einen totschweigen als dulden, daß einer sagt, für mich ist gottseidank der Krieg jetzt aus. Doch dieses Bildchen hatte ihn erreicht. Das Söhnchen in den weißen Knienetzstrümpfen. Ein Sonntagskind. Was war mir Sonntag, Werktag, alles eins. Einmal lief ich, noch nicht drei, die lange Strecke zum entfernten Garten, von Hammerstein nach Vohwinkel, wo hinter Sträuchern am Bahndamm die Zwangsarbeiter winkten: Tschechen, Russen, Polen, eine Slawenkolonie. Die Mutter gab ihnen manchmal ihren kleinen Sohn, der ging von Arm zu Arm. Und schenkte Beeren aus. Ein Lachen war das, fast zum Heulen. Da lief ich an dem Nachmittag hin, saß mutterseelenallein auf halbem Weg am Straßenrand, wo ein Bekannter mich entdeckte, der in der nahen Fabrik arbeitete. Der dachte sich, ich seh nicht recht und brachte mich dann heim. Wie sich alles aufbauscht in der Erinnerung, die man erzählen hört, der Schreck, das Glück, die Erleichterung.

Im eisigsten der Winter, 47, war es soweit. Der Fremde kehrte heim, füllte das Zimmer mit sich, kanadischen Wollsachen, englischem Zigarettenrauch. Eukalyptusbonbons. Der glimmende rote Punkt nachts. Eisbären kamen in das Zimmer, warfen die Betten um, suchten den Honig, von dem es, ach, so wenig gab. Geschichten, Geschichten. Und erst die Überfahrt. Ich sah durch diese Dunkelheit schneeweiße Weiten, eine Welt, die nachts ganz Zauber war. Da schlief ich ein und träumte mich mit aller Macht aus meinem Bettchen fort.

Im Herbst darauf zogen wir nach Vohwinkel, auf die »Insel«, im Westen der Stadt. Der Platz mit der Kastanie, die stellte alle anderen Bäume in den Schatten. Zwischen Straßen, Gärten, Fabriken, Eisenbahn und Kabelwerk lag das Karree der Häuser. Dienstwohnungen, in denen es anfangs nur Brotsuppe gab. Einzimmerwohnungen für manche, die da zu viert und fünft hausen mußten. Lieber aß ich die Früchte, stahl von den Bäumen, Sträuchern. Lief in die hellen Buchenwälder im Osterholz, ließ mich vom Gewitter warm waschen, saß unter der Kastanie, die in das Himmelsblau ihre hellen Kerzen brannte. Dann folgte der Platzregen der stacheligen Kugeln, die wir uns mit viel Geschick nachwarfen und auf die Dächer schickten oder an Fensterscheiben, um zu laufen, als gelte es das Leben. Versanken dann im Laub, atmeten den Staub, bis er dunkel wurde, nachtschwarz.

Aber die Sirene der Fabrik, auch sonntags. Erst später hat man sie an Ruhetagen abgestellt. Die Züge standen nie still. Der immer verschiebende Rangierbahnhof, Tag und Nacht. Noch in den Träumen das Pfeifen, Stoßen, Hemmschuhquietschen, Eisen auf Eisen, ein schriller Vogel. Morgens ging ich durch den kilometerlangen Arbeiterzug die Fabrik entlang zur Schule. Gegen den Strom schwimmen. Ich habe sie alle mitgenommen mit den Augen, die platten einheimischen Heinis, die flachsten schon frühmorgens um sieben, die braunen Jungs mit ihren blitzschnellen Schweinezungen oder Daumen zwischen zwei Fingern, Klöten, grinsten sie; die Lehrlinge, Gesellen, Meister, die besseren Herren, denen die Typistinnen nachtrippelten, kostümeingewickelt, auf Stöckelschuhen. Das sah urkomisch aus, wie die Beine auf dem Vorstadtpflaster knickten. Dann die Flüchtlinge aus dem Osten, besorgtere Gesichter, ihr anderes Deutsch, das oft verlacht wurde. Und die Fremden, Jugoslawen, Griechen, Türken, Italiener, Spanier, bis von Marokko, Tunesien. Ihr Stummsein, Lachen, die unverständlichen Zurufe, die verständlichen Gesten. Die Hilfsarbeiter, die ganz unten. Der eine, freitags blutend, torkelnd, sein aufgeschlagener Kopf vor dem Wirtshaus im Lachen der andern. Seine Wunde wurde nicht gestillt, nicht sein Schmerz, nicht meiner.

Ich lernte traurig sein. Saß bei den Familienfesten in der Runde, fiel heraus. Es begann ein Film in mir. Die Kamera, die aufnimmt, die sich zur Übersicht auf Distanz hält. Wenn es zuviel wurde mit diesem Feiern und den Geschichten, die wie das Bier später in den halbleeren Gläsern schal rochen, lief ich weg. Durch die Felder, durch die Wälder, den Westwind im Gesicht, warf Steine nach den Vögeln, stahl Mirabellen, sammelte Bucheckern, las in den Gesichtern der Mädchen die Spiegelschrift, die ohne Spiegel Rätsel blieb. Ich schwamm in den grünen Steinbrüchen, die heimtückisch kalt waren im heißesten Sommer. Kälte, keiner wußte wie tief. Hörte einen reden über das Sein und das Nichts, über Sartre. Las von Camus die Pest. Ich fühlte im Schatten der Bäume die brennende Haut, der Kopf wurde leer, wieder voll. Auf dem Fahrrad fuhr mir der Wind in den Mund.






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