In seinen Essays und Miniaturen erprobt Steffens einige Motive seiner Rekonstruktion der Anthropologie im Medium der Literatur.
Essays: Hinter Vorhängen oder Von der Wahrheit . Vom Gesicht . Gerade genug oder Was wollen wir wissen? . Es sich sagen lassen . In der Fremde . Das Versprechen des Kindes . Werkzeuge für die Werkstatt des Lebens: Schärfung einer Daseinsmetapher . Nietzsche oder Die Sehnsucht nach einem anderen Menschen . Politik als plastische Chirurgie . Splitter im Auge: Wiederkehr des Wirklichen in den Bildern . Selbstbildung . Miniaturen
Leseprobe
Vorweg
Je größer die Fragen, desto bedenklicher wird es, sie zu bedenken.
Sie beschämen das Denken, indem sie es dem Scheitern an jener
Banalität aussetzen, deren verstörende Erfahrung es doch in Gang
setzt: hinter dem, was so, wie es ist, doch nicht alles sein könne,
einen Sinn zu entdecken, der es erträglich werden lässt.
Diesem Scheitern zu entgehen, braucht es außer Mut zur
Selbstüberforderung
vor allem Sinn für das Geringfügige. Mögliche
Antworten liegen in der Aufmerksamkeit für das Beiläufige
geborgen. Das macht die auch geisteswissenschaftlich geübte betriebsame
Unterscheidung nach ›Haupt- und Nebensachen‹ eines
Autors hinfällig. Für einen, der eine hat, gibt es nur verschiedene
Wege, sich seiner Sache anzunehmen, und sie zur Sprache zu
bringen.
Das zur Sprache Gebrachte ist das dem Leben als seine Wirklichkeit
Zugeeignete.
Wer im Leben das Sagen hat, braucht nur wenig zu sprechen;
wer die Worte sucht, die das Leben wirklich machen, muss alles
aussprechen. Dabei hat er sich vor dem Bereden zu hüten.
Der Schriftsteller, der nicht nur beschreiben will, was er in Erfahrung
bringt, sondern auch verstehen, gerät in die Philosophie;
der Philosoph, der nicht nur aussagen will, was er denkt, sondern
den Gedanken auch zur Sprache bringen, die seine Einsicht verstehen
lässt, in die Literatur.
Der Gedanke bedarf der Sprache, die ihn dem Leben einfügt,
aus dessen Erfahrung er stammt. Nicht irgendeiner – : der Sprache
des bewussten Lebens, in die er zu übertragen ist, sobald er in
der Sprache des Denkens erfasst wurde.
Diese Übersetzung macht den Philosophen zum Schriftsteller:
die Anverwandlung der Erkenntnis aus Begriffen für ein Leben
aus bedachter Einsicht.
Die Schnittfläche ist nicht der schriftstellernde Philosoph,
auch nicht der philosophierende Schriftsteller: es ist die Sprache
der Erfahrung. An deren Bildung arbeiten beide. Für sie gibt es
nicht ein einziges Genre, sondern ein unbegrenztes, sich mit jeder
Überlegung neu ausrichtendes Feld der Bedeutungsbildungen.
Deren Verfahrensform, die keine Gattung ist, ist der Essay: die
Unform einer stetig neu ansetzenden Formprägung gedachter
Erfahrung in Sprache.
Die wohl größte aller philosophischen Selbstüberforderungen
liegt im Anspruch des Begriffs der Wahrheit. Ihn zu bedenken,
sollte nicht beabsichtigen, ihn zu definieren, sondern sich dieses
Anspruchs zu vergewissern. Er lauert hinter allen Verbindlichkeiten,
die die einen für die anderen setzen, vom pragmatischen Gebot
der Lebensführung bis zur Verwerfung eines Lebenswertes.
Die Selbstgewissheit des Urteils über Existenzwert und –unwert
steht am Anfang aller Ereignisse, die unser Verständnis von
Geschichte, und das Entsetzen ihrer Erfahrung bestimmen. Von
ihm geht eine ständig sich erneuernde Nötigung aus, das Dasein
derer zu bedenken, die ihre Erfahrung machen. Rückhalt und
Antrieb des Nachdenkens ist seit dem Bruch, der sich in der
Geschichte des 20. Jahrhunderts vollzog, die alle Einsichten und
sicheren Überzeugungen menschlichen Selbstverstehens außer
Kraft setzte, Anthropologie: die Selbstbefragung menschlicher
Selbstgewissheit.
Nach dem Ende des Humanismus die Lage des Menschen
zu bedenken, erfordert indirekte Zugänge, da mit seinem überkommenen
Verständnis auch »der Mensch« als Objekt der Erkenntnis
verschwand. Nun bedarf es indirekter Zugänge, eines
Spurenlesens im Unvermuteten, wie einer Novelle Balzacs, an der
das Fortwirken der Anthropolitik als einer Politik am Menschen
hervortritt.
Der Anthropologe hat sich nun umzutun in den Unwahrscheinlichkeiten
und Unscheinbarkeiten alles dessen, was seine
Geschichte dem Menschen aufzwang, der sie sich antat.
Das führt auf verloren gewesenen Spürsinn wie den der Physiognomie
zurück, die es darauf anlegte, die Wahrheit eines
Menschen aus seinem Gesicht und seinen Händen abzulesen.
Wenn wir wissen wollen, was wir wissen wollen, so werden wir
es mit dem Verborgenen zu tun bekommen; Verborgenem, wie
es jedermann ins Gesicht geschrieben steht. Es sind die offenen
Geheimnisse seiner Geschichte, die der Anthropologe als Archäologe
des Menschen ausspricht.
Aber wollen wir auch wissen, was wir wissen müssten, um uns
kennen zu können? Die wesentlichen Einsichten werden nicht
erarbeitet; mit der Aufmerksamkeit des Unwillkürlichen muss
man sie sich zusprechen lassen aus den Zeugnissen manifestierter
Erfahrung, wie sie die literarischen und die bildnerischen Künste
darbieten.
In der europäischen Kultur sind sie durchdrungen von der
Drohung der Fremde als Urerfahrung des Menschseins. Kontrapunktiert
wird sie vom Versprechen des Kindes, dass anderes
Leben möglich wird, wann immer ein neues entsteht.
Von der Arbeit an der Erkenntnis des Menschen ging das 20.
Jahrhundert, dessen Ende noch nicht eingetreten ist, über zu
einer Arbeit am Menschen. Nietzsches Sehnsucht nach einem
anderen Menschen wurde zur erlogenen Pseudolegitimation einer
Abschaffung des Menschen in den Anstrengungen seiner
endgültigen, einförmigen Erzwingung als Objekt politischer Anthropopoiesis.
Deren schleichende Wiederkehr unter dem Mantel
der Neutralität reiner wissenschaftlicher Forschung macht ihn
zu einem der Klassiker des 21. Jahrhunderts, so wie Balzac und
E.T.A. Hoffmann zu Klassikern der literarischen Vorgeschichte
des ›Neuen Menschen‹ wurden.
Zur anthropopoietischen Wiederaufrüstung gehören als wesentliche
Werkzeuge ihrer Implantierung ins kollektive Unbewusste
die Medien der Virtualität. Im Universum medialer Technik
erhält das Bild neue, unabsehbare Bedeutung. Es wird zur
Vorwegnahme einer künftigen Wirklichkeit, so, wie es einmal
die Aufbewahrung einer vergangenen gewesen ist. Das Virtuelle
ist nicht das Unwirkliche; es ist die Vorhersicht einer anderen
Wirklichkeit.
Wie der Essay nicht die Gestalt eines unsicheren, sondern des
offenen Denkens ist, das sich zu seinem Gegenstand in Beziehung
setzt, indem es dessen Beziehungen nachzeichnet, so gibt die
Miniatur nicht das Große klein, sondern zeigt am Beiläufigen
die Wirklichkeit des Bedeutenden.
Die den Essays angefügten Miniaturen sind Etüden zur Erprobung
einer Aufmerksamkeit, die im Unscheinbaren Facetten des
Wesentlichen aufspürt.
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