N O R D P A R K
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Birgit Ohlsen
Unruhige Tage.
Eine Wuppertaler Straße wird entnazifiziert
Das Protokoll
Paperback
88 S.; 2020; EUR 10,00
ISBN: 978-3-943940-62-6

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Eine bewegte Zeit
Mit der Benennung einer Straße nach einer
bekannten Persönlichkeit soll diese Persönlichkeit
geehrt werden.
Eine Gruppe verantwortungsbewusster Wuppertaler
Bürger hat sich vorgenommen, durch die
Umbenennung der Dorpmüllerstraße in Rappoportstraße
mit unkonventionellen Mitteln einen
Menschen zu ehren, der sich seine Humanität
nicht durch den Naziterror hat rauben
lassen,
der für seine Opferbereitschaft und praktizierte
Menschlichkeit letztendlich mit dem Leben
bezahlen mußte.
Die Autorin protokolliert in diesem Buch die
Abläufe der geforderten Umbenennung, belegt
die Widerstände und die Zustimmung und
zeichnet zugleich das Bild einer bewegten Zeit
in einer westdeutschen Stadt.
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Leseprobe:
1. Kleine Schritte
Sechzig Schritte. Eine Straße, so lang wie einmal Atemholen zwischen Shoppen und Einkäufe zum Parkplatz tragen. Sechzig Schritte, kleine Füße. Atemholen, innehalten, den rechten Schuh anheben zum nächsten, weiter ausholenden Schritt. Sechzig Schritte. Eine Straße, wenn’s hoch kommt, drei Minuten von einem Ende zum anderen. Sechzig kleine Schritte. Eine Straße, nein, eher eine Gasse, Abstandhalter zwischen ein paar eher unscheinbaren Ladengeschäften ohne Laufkundschaft auf der einen und der Rückseite einer Bank, eines Bäckereicafés auf der anderen Seite. Einhundertzwanzig Schritte, einmal hin, einmal zurück.
Fast hätte ich das Schild übersehen. Zufällig die Entdeckung der kleinen, eher unwichtig aussehenden Seitenstraße mit dem Namen des Dr. Eugen Rappoport. Nein, das Schild bricht nicht unter der Last des Namens noch hält es eilig vorbeihuschende Passanten in ihrem Lauf auf.
Der Eindruck möchte mit der Kamera festgehalten werden, ohne dabei die vagen, an diesem Ort konkreter werdenden Erinnerungen zu überdecken.
Eine Passantin bleibt stehen, nimmt für ein paar Augenblicke teil an der fragmentarisch bleibenden Abbildung ihres täglichen Einkaufsweges, vielleicht ihrer vertrauten Heimatstadt. Lächelt, als verstünde sie, warum gerade dieser unscheinbare Ort an diesem einen Frühsommermittag die Wichtigkeit einer Sehenswürdigkeit bekommen sollte, geht weiter, leisen, ein wenig verhalten Schritts.
Der Blick aus dem Sträßchen richtet sich, ob beabsichtigt oder nicht, auf das Bismarckdenkmal, nicht zu übersehen auf dem Geschwister-Scholl-Platz. Wie oft bin ich in einem früheren Leben hier vorbeispaziert, auf dem Weg ins Haus der Jugend, in die Kunsthalle, die Bibliothek.
Clio, die in Bronze gegossene Muse der Geschichtsschreibung, bescheiden und doch prominent zu Füßen des Reichskanzlers posierend, entdecke ich zum ersten Mal, als ich mich neben sie auf die Stufen des Monuments setze, um die kurz zuvor gemachten Fotos zu sichten, mir erste Gedanken zu deren Beschreibung zu machen. Wie eine zeitgenössische Zeitung berichtet, wurde sie, wie das Bismarckdenkmal auch, vom Bildhauer Hugo Lederer errichtet und zu Füßen des Reichkanzlers platziert, »um mit ehernem Griffel die Großthaten des gewaltigen Reichsschmiedes ins Buch der Geschichte einzutragen…”.
Clios Attribute sind, so die mythologische Überlieferung, Papierrolle und Schreibgriffel. Ein eherner Griffel als Symbol der Geschichtsschreibung erscheint heute kaum zeitgemäß, legt dennoch Zeugnis ab von der Denkart nur scheinbar überholt geglaubter Zeiten.
Die Chronistin zückt ihren Stift aus schlichtem Holz, zieht das Oktavheft aus der Jackentasche – beides trägt sie stets bei sich – und beginnt zu schreiben.
2.Von der Idee zur Vorbereitung
Zurück am Schreibtisch gilt es, drei Jahrzehnte und ein wenig mehr in die Geschichte abzutauchen. In die eigene Geschichte, die mich mit der Stadt Wuppertal verbindet, in die ich an diesem Frühsommertag im Jahr 2019 zurückgekehrt bin, um ein Resümee, vielleicht auch einen Schlussstrich zu ziehen unter eine im Rückblick höchst fragile Liebesbeziehung. Wie in jeder Beziehung gab es gute und weniger gute, ereignisarme und lebendige Tage. Ein paar dieser unvergesslichen Tage in der Beziehung von ein paar engagierten Menschen zu ihrer Stadt möchte ich hier lebendig werden lassen.
Unruhige Zeiten
Konstruktives Erinnern ist gefordert. Zumindest die Ergänzung, in Details auch Korrektur des kollektiven Gedächtnisses einer Stadt, die zu Recht stolz ist auf ihre großen Töchter und Söhne, dabei aber etwas ungenau bleibt in der Erinnerung an dunkle Zeiten und deren historische Aufarbeitung.
Es waren turbulente Zeiten in den frühen 1980er Jahren, international wie national. Neue soziale Bewegungen lösten bestehende ab, im besten Fall erweiterten sie das Aktionsspektrum. Höhepunkte des nationalen Protests spiegelten sich in den Großdemos der Friedensbewegung anno 1981, 1983 im Bonner Hofgarten wider. Der NATO-Doppelbeschluss wurde (dennoch) festgezurrt. Nach dem Scheitern der Genfer Verhandlungen im November 1982 lehnten Bevölkerungsmehrheiten etlicher NATO-Staaten die geplante Stationierung von Raketen der neuesten Generation ab. Eine Abgeordnetenmehrheit des Deutschen Bundestages stimmte ihr am 22. November 1983 jedoch zu.
Hierzu meldete der Radiosender WDR1 in der Sendung »Stichtag heute«, Thema »22. Oktober 1983 – Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten« am 22.10.2013 u.a. Folgendes:
Trotz des bundesweiten Aktionstages erreicht die Friedensbewegung ihr Ziel jedoch nicht:
Als die Abrüstungsverhandlungen in Genf scheitern, stimmt der Bundestag im November 1983 mit den Stimmen der Union und der FDP für die Stationierung der US-Raketen.
Ab Dezember 1983 wurden die neuen Atomraketen aufgestellt.
Die Gruppe
Im Laufe des Jahres 1983 bildete sich als Antwort auf die großen politischen Themen, die in den 1980er Jahren nicht nur
den Weltfrieden bedrohten, auch in Wuppertal eine Reihe von
sogenannten Bezugsgruppen. Vergleichbare Zusammenschlüsse hatten sich in Folge der Studenten-»Revolutionen« weltweit
gegründet und folgten in der Zielsetzung des Widerstands mit
zivilen, friedlichen Mitteln den Idealen der amerikanischen Antikriegsbewegung. Ein Blick ins Internet erklärt deren Formation/
Funktion folgendermaßen:
Eine Bezugsgruppe, auch Autonome Gruppe oder Affinity
Group, ist eine kleine Gruppe von Aktivisten, die zusammen
Direkte Aktionen ausführen. Sie besteht üblicherweise aus
drei bis zwanzig Personen.
Bezugsgruppen sind nichthierarchisch organisiert und arbeiten
nach dem Konsensprinzip. Sie bestehen zumeist aus vertrauenswürdigen Freunden und ähnlich eingestellten Personen.
Sie vertreten eine reaktive, flexible und dezentralisierte Organisierungsmethode, wo notwendig.3
Die empfundene Ohnmacht gegenüber der Aufrüstung der Supermächte, dem Ausbau der Atomenergie, der Dezimierung der
Artenvielfalt durch profitorientierte Landwirtschaften (etc.) hatten wir nichts entgegenzusetzen als die Kraft unserer Fantasie.
Zitrone
Die Gründung der Bezugsgruppe »Zitrone« vollzog sich etwa
zeitgleich und erfolgte – hier wie dort – zunächst nach dem Sympathieprinzip. Zwei Lehrer, drei Studenten, eine im Laufe der Zeit
auf drei Köpfe angewachsene junge Familie, ein Sozialarbeiter-
pärchen, eine Laborantin, ein Schüler. Zitronengelbe Halstücher
– am besten eignen sich für diesen Zweck gefärbte Stoffwindeln
– dienen zur Kenntlichmachung, bald auch als Erkennungszeichen, und geben der Gruppe schließlich ihren Namen. Noch vor
dem Herbst 1983 findet ein gemeinsames Training für gewaltfreien Widerstand bei durchaus einkalkulierbaren zukünftigen
Festnahmen statt.
Der Ort: ein stillgelegter Bahnhof in der Eifel, betrieben von
einer jungen Familie mit zeit- und situationsentsprechendem
ökologischem Konzept. Ein Wochenende lang robben wir unter
Stühlen und Tischen hindurch, diskutieren, essen gemeinsam
– ein zuvor bereits absehbares Zusammengehörigkeitsgefühl
entsteht und wird gefestigt.
Auch der Staat interessiert sich, so hat es zunächst den Anschein, für unser Unternehmen: Der »arbeitslose Architekt«, der
in letzter Sekunde zur Gruppe gestoßen ist, verschwindet nach
den ersten Diskussionsrunden, »um seine in der Nähe lebende
Mutter zu besuchen«. Schon am zweiten Tag taucht er nicht mehr
auf.
Wieder am Wohnort treffen wir uns regelmäßig an wechselnden Orten. An das gelegentliche Knacken im Telefon haben wir
uns längst gewöhnt. Es darf davon ausgegangen werden, dass
auch nach dem gewaltfreien Training die Wände Ohren haben.
Dessen ungeachtet beraten wir über den ersten Einsatz.
Zur Diskussion steht die Teilnahme an einer der deutschlandweit geplanten Sitzblockade vor den US-Raketendepots Mutlangen und Bitburg. An beiden Standorten ist die Stationierung von
Pershing II-Raketen vorgesehen. Zur Erinnerung: Dabei handelt
es sich um mit atomaren Sprengköpfen bestückte Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 1000 und 5500 km. Es ist
absehbar, dass in Mutlangen sogenannte »Promis« aus Politik
und Gesellschaft zu erwarten sind, also entscheiden wir uns für
die Airbase Bitburg. Das Vorhaben festigt die Gruppe. Zwei
Zitrone-Mitglieder werden Anfang September 1983 nach einer
durchregneten Nacht auf dem Acker neben der Zufahrtstraße
zur Base im Zuge einer Sitzblockade festgenommen. Es folgt die
erkennungsdienstliche Behandlung, etliche Monate später die
Gerichtsverhandlungen. Für einige von uns ist dies die erste direkte Begegnung mit der Staatsgewalt.
Im darauffolgenden Frühjahr trifft sich die Gruppe erneut.
Zwei Neulinge sind hinzugekommen: Joschi, knapp drei Monate
alt, dazu ein ebenfalls friedensbewegter, handwerklich versierter
Lehrer.
Der Beschluss
Wer nun auf den Gedanken kam, die Dorpmüllerstraße zu »entnazifizieren« und einem würdigeren Bürger der Stadt zu widmen,
lässt sich aus heutiger Sicht nicht nachvollziehen.
Ein der Chronistin vorliegender »Beschlußvorschlag«, erstellt
vom Dez. VI/62 – Vermessungs- und Katasteramt am 05.04.,
beschlossen am 08.05.19844, begründet diesen folgendermaßen:
»Aufgrund mehrerer Anträge politischer Parteien und Interessengruppen in Wuppertal soll die »Dorpmüllerstraße« umbenannt werden. Begründung für die Umbenennung ist der bei
allen Antragstellern gleichlautende Vorwurf, daß Dr. Julius
Dorpmüller in seiner Funktion als Reichsverkehrsminister und
zuständiger Minister für die Deutsche Reichsbahn in der Zeit
von 1937 bis 1945 verantwortlich war für die Eisenbahntransporte von Juden in den Osten.«
Fakt ist, dass die Diskussion zwischen den von Amts her legitimierten Entscheidungsgremien und dem sich als Souverän
definierenden Bürger erst so richtig in Gang kam, als eine bis
dato unbekannte Gruppe – beileibe keinesfalls eine bürger(liche)
Initiative – die Angelegenheit selbst in die Hand nahm und deren
Durchsetzung letztendlich beschleunigte ...
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