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Grosche-Weißer Sonntag

Erwin Grosche:
Weißer Sonntag
Maikötters dritter Fall

Kriminalroman
Mit farbigen Illustrationen von Christoph Mett
Paperback, 2013
188 S.; EUR 15,00;
ISBN 978-3-935421-70-6


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Rachefeldzug vor brisantem Hintergrund.

Über der Domstadt Paderborn strahlt die Sonne. Ausgerechnet den Weißen Sonntag sucht sich ein Geiselnehmer aus, um neun Kommunionkinder in seine Gewalt zu bringen. Der von Hauptkommissar Gökke hassgeliebte Privatdetektiv Friedrich Maikötter muss als falscher »Priester« mit dem Geiselnehmer verhandeln. Was in Erwin Grosches letztem Roman der Maikötter-Trilogie als Entführung beginnt, entpuppt sich bald als Rachefeldzug vor brisantem Hintergrund. Maikötter und sein pfiffiger Helfer Gregor Deckel müssen sich beeilen, um alle Forderungen des Entführers zu erfüllen, denn sollten sie scheitern, würde ein Mensch sterben.
Eine Geschichte über Täter und Opfer, über Missbrauch und Schuld. Kann Detektiv Maikötter in seiner Tarnung als Priester Paderborns »heile« Welt wieder herstellen?
Dass derweil in Paderborn ein wertvolles Originalmanuskript der Dichterin Luise Hensel auftaucht, hat am Rande auch mit dem Geschehen zu tun.
In diesem spannenden Roman, der vorbehaltlos ein besonders von der Kirche gerne verschwiegenes Thema aufgreift, beweist Erwin Grosche mit der skurrilen Figur des falschen Priesters einmal mehr seine Ausnahmestellung unter Deutschlands Krimiautoren.


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Leseprobe




1. Kapitel


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Die Sonne schaut auf die Stadt. Sie ist eher aufgestanden als die meisten Menschen in der Paderstadt. Es ist Sonntag. Der Himmel um sie herum wirkt wie ein verwaschener 50-Euro-Schein. Nach den grauen Tagen des Winters reibt man sich die Augen, so schön erstrahlt die Stadt in diesem Glanz.
Maikötter hatte die Nacht mit seiner Nachbarin Ruth verbracht und bedauerte den Rückfall. Er hatte eigentlich längst mit allen Leidenschaften abgeschlossen und kam sich in seiner Hingabe albern vor. Hoffentlich habe ich nicht »oh, oh« gestöhnt, dachte er. Wahrscheinlich hatte ihm der Alkohol solche Seufzer entlockt. Nun war er wach geworden und zog seinen Priesteranzug an. Er betrachtete sich im Spiegel. Auch ein falscher Priester war gewissen Spielregeln unterworfen. Im amtlichen Direktorium für den Dienst und das Leben der Priester von 1994 war alles klar formuliert: »Dies bedeutet, dass diese Bekleidung, falls sie nicht der Talar ist, verschieden von der Art der Kleidung der Laien zu sein hat und konform der Würde und Sakralität des Amtes.« Schnitt und Farbe werden von der Bischofskonferenz festgelegt, immer in Harmonie mit den Dispositionen des allgemeinen Rechts. Maikötter war eitel. Er trug zu seinem schwarzen Anzug ein graues Collarhemd mit weißem Plastikcollarkragen, der gerade noch über seinen gelben Pullunder herausragte. Die Sonnenfarbe durfte sein. Maikötter musterte sich. Rund wie auf einer Kinderzeichnung war alles und aus der Form. Seine blonden Haare hingen ihm über den Kragen und lümmelten sich auf der Stirn. Zum Glück war er groß, da verspielte sich manches. Seine Nachbarin und er hatten sich im Dunkeln geliebt, da zählten andere Empfindungen. Ruth lag nackt in seinem Bett. Die Sonne schien auf ihr Gesicht. Erst jetzt sah er, wie alt sie war. Ihr Hals war voller roter Flecken, als hätte er Vampir gespielt. Hoffentlich habe ich nicht Vampir gespielt, dachte er. Er hatte sich früher öfters Kaffeefilter bei ihr ausgeliehen. Das war kein Vorwand gewesen. Kleinigkeiten wie Kaffeefilter vergaß er grundsätzlich einzukaufen. Auch wenn er gleich zwei Packungen im REWE holte, waren die irgendwann aufgebraucht und er stand wieder mutlos vor seiner Kaffeemaschine. Manchmal musste er nur bei ihr klingeln, dann öffnete sie die Tür und hielt ihm bereits einen Kaffeefilter entgegen. Ihr Freund war beim SC Paderborn für die Werbeeinblendungen verantwortlich. Wenn jemand einen Freistoß schoss, präsentierte er den Sponsor dieser Aktion auf der Anzeigetafel. Eine unsinnige Aufgabe, bei der man schnell den Respekt der Frauen verlor. Ruths Freund war ein bulliger Mann mit einer Nerdbrille, der halslos wie eingelaufen wirkte. Er trug Rollkragenpullover, als wollte er damit sein fehlendes Körperteil überspielen. Oft war er an Wochenenden unterwegs und wohnte bei Auswärtsspielen im Hotel. Nun lag sie in seinem Bett, und ihre rot lackierten Fußnägel streckten sich unter der Decke hervor, als brauchten sie Luft. Ihr Mund war leicht geöffnet, als habe sie Schnupfen. Er wusste nicht, ob sie schlief oder ein Wiedersehen mit ihm vermeiden wollte. Er sah sie an. Wen konnte er jetzt um Kaffeefilter anbetteln? Bei der nun entstandenen Vertrautheit wäre das Thema »Kaffeefilter« zu belanglos gewesen. Vielleicht hatte er Glück und sie konnte sich nicht an die Nacht erinnern. Das war doch nur ein Überfall gewesen und jetzt mussten die Opfer betreut werden.
Er erinnerte sich, wie er in Bernies Rösti-Restaurant gesessen hatte, um dort aus dem Fenster zu schauen. Ein Glas Bourbon stand vor ihm, welches immer aufgefüllt wurde. Er wollte schnell betrunken werden und merkte schon nach dem zweiten Glas, wie gut ihm das gelang. Dr. Lichtenfeld winkte ihm durch das Fenster zu, bevor er hereinkam. Sein Auftraggeber hatte ihn dort zum Essen eingeladen, um ihm seinen neuen Fall zu erläutern. Dr. Lichtenfeld war Literaturwissenschaftler an der Universität Paderborn, und Maikötter hatte schnell bemerkt, wie fremd sie sich waren. Er hätte auch mit einem Pfau am Tisch sitzen können, obwohl das vielleicht unterhaltsamer gewesen wäre, wenn der ein Rad geschlagen hätte. Dr. Lichtenfeld sah aus wie der Sieger des Doppelgängerwettbewerbs von Erzbischof Becker. Braungebrannt und entschlossen wirkte er jung. Der Erzbischof und der Wissenschaftler waren beide über sechzig Jahre alt und trugen eine schmucklose Brille in ihrem runden Gesicht. Becker hatte weniger Haare und der Kranz war grau, während Dr. Lichtenfeld eine Mütze trug, unter der die schwarzen Koteletten herausragten. Nur wenn sie lachten, veränderten sie sich zu anderen Wesen. Der Wechsel von dem geschlossenen kleinen Mund zu diesem breiten herzlichen Lachen machte den Erzbischof aus. Später hörte Maikötter, dass Dr. Lichtenfeld auch aus Belecke stammte. Sahen in Belecke alle Menschen wie Heilige aus? Maikötter erzählte gerade von einem kürzlich abgeschlossenen Überwachungsauftrag, als er spürte, wie sich der Wissenschaftler langweilte. Was spricht man mit einem Gelehrten, der sich der religiösen Lyrik des 19. Jahrhundert verschrieben hatte? Der Wissenschaftler trug ein weinrotes Tweedsakko mit Schulterpolstern. Die dunkelgrüne Breitcordhose gab seinen linkischen Bewegungen etwas erstaunlich Solides. Er gehörte zu den Menschen, die alles mit großen Armbewegungen untermalen müssen. Ein Scheibenwischer und Formenandeuter. Maikötter hatte Angst, dass der Forscher die Blumenvase mit der weißen Plastikrose vom Tisch stoßen könnte. Dr. Lichtenfeld erzählte von der Dichterin Luise Hensel, die ihre letzten Jahre in Paderborn verlebt hatte. Maikötter kannte den Luise-Hensel-Turm, der gegenüber dem Ostfriedhof an die Wochenendaufenthalte der Paderbornerin erinnerte. Ihr Gebet »Müde bin ich geh zur Ruh« schickte noch heute die Paderborner Kinder ins Land der Alpträume. Sie hatte ihre letzten drei Lebensjahre im Westfalenhof, dem Kloster der Töchter der christlichen Liebe, verbracht. Den ganzen Abend hatte Maikötter versucht, das Gebet wieder auf die Reihe zu bekommen:
»Müde bin ich geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu.....«, murmelte Maikötter.
Dr. Lichtenfeld lachte.
»Vater, lass die Augen dein, Über meinem Bette sein!«
»Wie geht es nun weiter?«
Dr. Lichtenfeld hatte Maikötter als Begleitschutz engagiert. Der neue Auftrag schien wenig aufregend. Eine Geldübergabe war nicht gefährlich, wenn alle Formalitäten im Vorfeld geregelt worden waren. Eigentlich wollte Maikötter seinem Gehilfen Deckel den Job zuschanzen, aber der konnte nicht. Deckel musste am Weißen Sonntag Orgel spielen.
»Was musst du?«, hatte Maikötter gefragt.
»Ich habe halt noch andere Talente«, hatte Deckel geprahlt.
Maikötter schüttelte den Kopf. Es war nie gut, wenn sich ein Privatdetektiv zu sehr dem eigenen Leben widmete. Wenn sein Assistent nicht der Sohn seiner Schwester gewesen wäre, hätte er nicht nur den Kopf geschüttelt.
»Bleib bloß auf dem Teppich«, hatte er gewarnt.
Dr. Lichtenfeld beschrieb gerade mit einer Handbewegung das Dokument, welches ihm angeboten worden war.
»Ich war noch nie in der Unterwelt«, flüsterte er. »Ich wage dies nur, weil Luise es wert ist.«
Der Wissenschaftler blickte sich so abrupt um, als wären alle Restaurantbesucher Spitzel und die lautlos durch die Tischreihen eilenden Kellner Enthüllungsjournalisten. Es ging um ein wieder aufgetauchtes Manuskript von Luise Hensel. Sie soll es in ihrem letzten Lebensjahr in Paderborn verfasst haben. »Ein Werk von unermesslichem Wert. Eine literarische Sensation. Es könnte meinen Ruf als der bedeutendste Hensel-Forscher Paderborns untermauern.«
Dr. Lichtenfeld war anonym kontaktiert worden. Sein Informant sprach von einer handschriftlich verfassten Niederschrift eines fünfstrophigen Gedichtes aus dem Jahre 1875. Er, Dr. Lichtenfeld, hatte bisher nur eine Schriftprobe gesehen, die aber von der alten Dichterin stammen konnte.
»Sie war ja in den letzten Lebensjahren quasi gehunfähig, da hat man schon die Zeit, um das eine oder andere Gedicht zu verfassen.« Maikötter hob sein leeres Whiskey-Glas. Er fragte sich gerade, warum er Whiskey trank, als ihm die Bedienung schon wieder das Glas füllte.
»Sie wollen also, dass ich ihnen morgen zur Seite stehe?«
»Es geht immerhin um eine Summe von 100.000 Euro. Da ist Vorsicht angebracht.«
Dr. Lichtenfelds Kontaktmann hatte den Königsplatz als Treffpunkt vorgeschlagen. Ein verkaufsoffener Sonntag stand vor der Tür, die vielen Menschen würden ihnen Deckung geben. Vor »Briefmarken Witte« sollte der Austausch über die Bühne gehen.
»Und Sie kennen weder den Namen des Hehlers noch haben Sie eine Garantie für die Echtheit des Dokumentes?«, fragte Maikötter.
»Da werden einige Leute staunen«, flüsterte Dr. Lichtenfeld unbeirrt. »Ich habe immer schon gesagt, dass die Hensel in Paderborn kreativ war. Da werden die Kollegen Augen machen.«
»Das alles klingt nicht sehr seriös«, versuchte Maikötter einzuwenden.
»Ich habe die vier Zeilen der Strophe lesen dürfen. Sie waren sehr bewegend. Sie hat ihr Thema Gott wieder aufgegriffen, aber mit einem nüchternen, todessehnsüchtigen, ja man kann sagen modernen Ton versehen.«
Dr. Lichtenfeld war so erregt, dass endlich von seinen himmelhochjauchzenden Armbewegungen die Blumenvase samt Rose umfiel und klirrend auf dem Boden zersprang. Maikötter atmete auf. Er war froh, dass das geschafft war. Die Vase hatte nie wirklich eine Chance gehabt. Der Wissenschaftler bückte sich unter den Tisch, um die Scherben aufzusammeln, während schon eine Küchenhilfe mit einem Kehrblech angelaufen kam. In diesem Augenblick hatte Ruth vor dem Fenster gestanden und auf den freien Platz neben Maikötter gezeigt. Er hatte erst gar nicht gewusst, wer sie war. Sie sah als Nachbarin ganz anders aus. Ohne Kaffeefilter wirkte sie fremd. Maikötter nahm einen tiefen Schluck und lachte ihr zu.
»Ich muss in diesem Augenblick denken und fühlen, und es ist mir, als wär’s wahrhaftig so, nämlich als wäre meine Brust ein Badezuber und Deine Füße stünden badend und plätschernd in meinem Herzen, und Du sagst: endlich krieg ich warme Füße.« Dr. Lichtenfeld kam rezitierend unter dem Tisch hervor, als sich Ruth zu Maikötter herunterbeugte und ihn küsste. Sie schmeckte nach Wein, Zigaretten und anderem Teufelszeug. Maikötter war froh, dass er an diesem Abend nicht als Priester gekommen war. Durch diesen Kuss hätte der Ruf der Kirche gelitten. Er schaute sich um. Im Restaurant wurden bereits Stühle auf die Tische gestellt. War es schon so spät? Ruth drückte sich so dicht an ihn, als wären sie allein.
»Das schrieb Clemens Brentano an Luise Hensel, als er ihr Herz erweichen wollte«, versuchte sich Dr. Lichtenfeld wieder ins Gespräch zu bringen. Er errötete sogar und legte die Plastikrose auf den Tisch.
»Wir sehen uns ja morgen um zehn auf dem Königsplatz«, sagte er noch, um danach an der Theke die Rechnung zu bezahlen. Maikötter wurde allein gelassen, um das zu beenden, weswegen Männer anfangen, Whiskey zu trinken. Dr. Lichtenfeld winkte ihm vor der Scheibe zu und schlenderte durch die heilige Paderborner Nacht. Maikötter seufzte.

Nun stand er im Bad. Er schloss die Tür. Keine Überraschungen sollten seine Rituale stören. Es war schon schwierig genug, alles leise zu bewältigen, was er sonst ganz laut tat. Auf dem Radiowecker konnte er die Zeit ablesen. Er musste sich beeilen. Die Zeit verging heute schneller als sein Gefühl ihn glauben machen wollte. Er dachte nach. Der Königsplatz war schwer zu sichern. Sollte ein falsches Spiel den Austausch scheitern lassen, gab es viel zu viele Fluchtmöglichkeiten. Der Platz war auch deshalb so unübersichtlich, weil Tausende Treppen, Türen und Gassen ihn mit anderen Ebenen verbanden, in denen man sein Auto suchen konnte oder sich einem Döner stellte.
Maikötter putzte sich die Zähne. Er gurgelte nicht laut. Er verkniff sich das Singen beim Kämmen und schlug sich nach dem Rasieren nicht klatschend auf die Wangen. Er tat alles, um Ruth nicht zu wecken. Am schwersten fiel ihm, im Bad keine laute Musik zu hören. Heute war er leise, um das Rotkehlchen nicht zu wecken. Er legte ihr einen Zettel auf das Bett. »Es sind keine Kaffeefilter mehr da. Ich melde mich. Friedrich«
Er parkte am Abdinghof, wo Dr. Lichtenfeld auf ihn wartete. Vor der städtischen Galerie wurde gerade ein riesiger Stahlrahmen aufgebaut, der auf die nächste Ausstellung hinwies. Maikötter war zu spät und Dr. Lichtenfeld machte ein entsprechendes Gesicht. Er hatte einen schwarzen Aktenkoffer dabei und trug immer noch die grüne Cordhose, aber dazu eine dunkelblaue Brioni-Jacke. Dr. Lichtenfeld hatte keinen Geschmack. Das war Maikötter gestern nicht aufgefallen.
»Haben Sie das Geld dabei?«, fragte Maikötter.
Der Literaturwissenschaftler nickte und zeigte auf seinen Aktenkoffer. Paderborn war voller Menschen. Der verkaufsoffene Sonntag lockte alle in die Innenstadt mit ihren Einkaufstempeln. Maikötter schaute sich um. Das Paderquellgebiet war neu gestaltet worden, aber wie bei einer alten Frau, die sich liften ließ, fiel dies kaum auf. Man saß auf neuen Bänken unter alten Laternen und düstere Graffitis drängten einem Botschaften auf, die schlichten Menschen Angst machten und an ein Ende mit Schrecken gemahnten. In Paderborn wurde alles bemalt, was mal ein schlichter Hintergrund war. Im Augenblick wurden wieder die Stromkästen mit Schmetterlingen dekoriert. Alles was irgendwie unauffällig im Hintergrund verweilen wollte, wurde mit Pauken und Trompeten in den Vordergrund gezerrt. Meistens kamen dann wieder welche, die das übersprayten, als schrie der Stromkasten nach Abwechslung. Er war doch nur ein kleiner Stromkasten. Maikötter schüttelte den Kopf. Eine Stadt ohne Hintergrund musste auf Dauer oberflächlich wirken. Im Hintergrund sind die Fluchtwege, Feuerwehrleute sitzen dort auf Stühlen und passen auf, dass nichts anbrennt. Das schlichte Dreihasenfenster konnte seine tiefere Bedeutung nur entfalten, weil es im Hintergrund hockte und kluge Menschen darin Hasen statt Dinosaurier kreisen ließen. Der Busbahnhof unter dem Königsplatz war nicht nur Hinter-, sondern auch Untergrund. Hier warteten die Paderborner, wenn das Leben vorbei war und man zu seiner letzten Reise zum Tartaros aufbrechen musste. Busse, mit riesigen Kuchenstücken bemalt, nahmen sie auf und ließen sie in den Tagträumen der Stadt verschwinden. Die Säulen hingen wie Stalaktiten von der Decke und stützten den unheimlichen Ort. Sie protzten mit bunten Lackfarben, um dem Platz seinen Schrecken zu nehmen. Vielleicht gelang dies eher einer kleinen Currywurst, die in Broers Imbiss angeboten wurde. Inmitten der Todeszeile empfand man sie wie ein Glühwürmchen in dunkler Nacht. Hier gab es die letzte Wegzehrung vor dem Aufbruch in das Hadesreich. Auch die Hölle kann man sich schön gestalten, mit ein wenig Phantasie und Gottvertrauen.
Maikötter ging mit Dr. Lichtenfeld durch das dunkle Mariengässchen.
Die Nichtachtung des Hintergrunds konnte verheerende Folgen haben, dachte er. Das wussten alle Pokerspieler und Privatdetektive. Maikötter musste aufpassen, dass er nicht auch mal umdekoriert wurde.
»Haben Sie eine Waffe dabei?«, fragte Dr. Lichtenfeld.
»Sind Sie verrückt«, sagte Maikötter und hoffte, dass seine Antwort nicht zu schroff ausgefallen war.
Der Wissenschaftler nickte beruhigt. Maikötter nahm den Koffer mit den 100.000 Euro an sich. Sie standen auf dem Königsplatz und sahen, wie Tauben versuchten, den McDonald´s zu stürmen.
»Hatten sie gestern noch einen schönen Abend?«, fragte Dr. Lichtenfeld anzüglich.
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Maikötter kannte viele Wissenschaftler, die gerne den Eindruck vermittelten, dass sie sich durchaus für Frauen und Fußball interessierten. Ein unangenehmes Herablassen in menschliche Bereiche, das Maikötter gerne abwürgte. Man unterhielt sich ja auch nicht mit einem Zahnarzt über Free Jazz. Er wollte also gerade nichts sagen, als eine verdächtige Person aus dem Düstern stürmte. Instinktiv schob der Privatdetektiv den Wissenschaftler hinter sich, als drohe Gefahr . Der Verdächtige war nackt. Ein kleiner Mann, dessen Nacktheit noch durch eine Glatze betont wurde. Er kam aus dem Dunkel, schaute sich bei Briefmarken Witte das Schaufenster an und verschwand in einer der kleinen Gassen, die den Königsplatz zerteilten wie ausgestreckte Spinnenbeine. »Diese Stadt wird immer verrückter«, murmelte Dr. Lichtenfeld. »Bald hat sie Anschluss an die verrücktesten Städte der Welt gefunden. Alle benehmen sich, als müsste man auffallen. Bald wird man Gott im Taucheranzug aufsuchen und McDonald´s wird DVDs von Bioköchen vertreiben.«
Maikötter überprüfte den Platz. Er wirkte kahl und unfertig wie immer. Als wäre dem Platzgestalter während der Planungsarbeiten die Frau fortgelaufen, sah alles trostlos und einsam aus. Viel Lärm um nichts. Gab es etwas Traurigeres als einen Kindergeburtstag bei McDonald´s? Den zwei dünnen Bäumen fehlte die Kraft, dem Platz Schatten zu schenken. An den Ästen pappten McDonald´s-Tüten und flatterten im Wind. Dr. Lichtenfeld seufzte. »Ohne Sonne kann man diesen Platz nur ertragen, wenn man jung ist.«Das Treiben war inzwischen unüberschaubar. Menschen strömten aus der Westernstraße und verschwanden in den Kaufhäusern. Keiner achtete auf den anderen. Wer dunkle Geschäfte betreiben wollte, war heute hier gut aufgehoben. Im Klingenthalpalast standen Männer an den Scheiben und schauten auf das Leben. Von weitem sahen sie aus wie Schaufensterpuppen. Maikötter blickte sich um. Wurden sie beobachtet? Er war unsicher. Der Aktenkoffer klebte wie ein kranker Käfer an ihm. Das Menschengewimmel wurde immer dichter. Alle gingen nirgendwohin und von dort wieder zurück. Plötzlich kam ein Mann direkt auf sie zu. Die Passanten stoben auseinander, als spürten sie seine Teufelsnähe. Eine Gasse bildete sich um seine dunkle Erscheinung. Er trug eine Trainingshose über abgelatschten Turnschuhen. Sein Gesicht quoll aus einer Kapuzenjacke. Auf der Jacke war ein Pfau aufgenäht. Er trug eine Papprolle in der Hand. Ein kleiner Hund trippelte neben ihm her und kläffte. Die Töle war so dünn, als wäre sie mit einer Strichzeichnung gekreuzt worden. »Lassen sie mich das machen«, flüsterte Maikötter bestimmt.
»Ich muss nur einen Blick auf das Dokument werfen«, sagte Dr. Lichtenfeld. »Ich will es haben.«
Der junge Mann sah Maikötter an.
»Was m- m- macht der hier? Wir hatten aus- ausgemacht, dass sie … allein kommen.«
»Er ist Priester«, sagte der Wissenschaftler, als wäre das der Freibrief für alle Anlässe.
»Red keinen Sch- Sch- Scheiß«, sagte der Mann. Er stotterte leicht. Maikötter blickte zu Klingenthal. Er sah einen bärtigen Sonnenbrillenträger, der in der Miederabteilung zwischen zwei Plastikpuppen posierte. Das ist eine Schaufensterfigur, stellte er erleichtert fest, aber manchmal konnten auch Paderborner so tun, als hätten sie kein Herz in der Brust. Vor ihm stand der Laufbursche mit seinem Strichhund, der gerade an den Schuhen des Wissenschaftlers schnupperte.
»G- G- Geld her.«
»Wir wollen das Dokument prüfen«, sagte Maikötter.
»Ihr Ihr dürft einen ….Blick drauf werfen«, sagte der Mann. »Sei still, L- L- .«
Der Hund bellte Maikötter an, als würde er sich nicht von seiner Verkleidung täuschen lassen. Der Mann nahm den Verschluss von der Rolle und zog ein Blatt Papier heraus. Er hielt es Dr. Lichtenfeld entgegen, der zitternd das Blatt abtastete. Seine Lippen bewegten sich und die Nase atmete so kräftig, als würde er sonst ohnmächtig werden.
»Halt die Schnauze, du Töle«, schrie der Mann seinem Hund zu.
Dr. Lichtenfeld sah in überrascht an.
»Mein Gott«, entrang es sich ihm in einem Schrei. »Es ist echt.«
Der junge Mann und Maikötter sahen beschämt auf den Boden. Der Ausbruch des Wissenschaftlers war beiden unangenehm. Für einen Augenblick stockte die Welt. Die Menschen auf dem Königsplatz erstarrten und bewegten sich nicht. Dr. Lichtenfeld wollte das Dokument an sich reißen, aber der Mann rollte es wieder zusammen und schob es in den Schoner.
»Wenn ich um das Geld bitten dürfte«, sagte der Mann seltsam höflich.
Maikötter warf ihm die Aktentasche zu, während Dr. Lichtenfeld nach der Rolle griff. Sie drehten sich um und sahen noch, wie der junge Mann laufend, den bellenden Hund im Arm, durch eine Parkhaustür verschwand. Der war weg. Maikötter und der Wissenschaftler gingen durch die Mariengasse.
»Mein Gott«, flüsterte Dr. Lichtenfeld. »Es ist echt. Die Kollegen werden aufheulen vor Wut.«
Sie gingen am Marienplatz vorbei, wo Maria von ihrem Denkmalsockel aus einen gütigen Blick auf die vor die Lokale gestellten Tische warf. Ließ sich in Paderborn die Sonne sehn, stellte die Gastronomie ihre Tische vor die Tür. Viele trauten der Sonne nicht recht und saßen vorsichtshalber in Wintermänteln vor ihrem Cappuccino. Die Bedienung von Café Ostermann lief über die Westernstraße zum Marienplatz und nahm dort die Bestellung auf.
Maikötter war verwirrt. Die Übergabe hatte so reibungslos geklappt, dass er argwöhnisch geworden war. Alles erschien ihm wie eine Szene aus einem B-Movie. Wer konnte ein Interesse an einem Betrug haben? Dr. Lichtenfeld hingegen war selig. Er strahlte und schloss die Augen, als spräche er ein stilles Gebet. Wieder fiel Maikötter auf, wie sehr er dem Paderborner Erzbischof glich.
»Der Text ist echt?«, fragte Maikötter verunsichert.
Der Wissenschaftler nickte. Er rollte den Text aus, hielt ihn vor sich und murmelte:
»Gottes Stimmen werden strafen,
ohne einen Phonographen,
unsre Schuld und Sündenpein,
löscht die Reue ganz allein.«
Dr. Lichtenfeld war gerührt. Er weinte.
»Der Text ist so echt wie sie und ich«, schwärmte der Wissenschaftler. »Wie innerlich, wie modern, wie gottverliebt« Er lachte laut auf. Dr. Lichtenfeld hatte bekommen, was er wollte.
»Irgendetwas ist faul an der Sache«, dachte Maikötter. Alles stank nach Betrug und Verbrechen.
Maikötter wollte gerade seinen Verdacht äußern, als sich sein Handy meldete. Er hatte eine SMS bekommen. HILFE konnte er lesen und RETTE UNS, D.








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Info:

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Erwin Grosche wurde 1955 in Berge/Anröchte (Westfalen) geboren. Er lebt heute als Kabarettist, Schauspieler, Autor und Filmemacher in Paderborn. Neben Kleinkunst- und Theaterproduktionen schreibt er Bücher und dreht Filme. Seine Kinderbücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er arbeitete als Schauspieler mit Doris Dörrie, Sven Severin, Margarete von Trotta u.a.
1999 erhielt er den »Deutschen Kleinkunstpreis« und wurde im Jahre 2000 Kulturpreisträger der Stadt Paderborn. Seit 2003 ist er Schirmherr von UNICEF PADERBORN und seit 2009 Botschafter der »Stiftung Lesen«. Im Jahre 2007 erhielt er den Peter-Hille-Literaturpreis für Kabarett und poetische Kleinkunst. Sein Lebenswerk wurde 2010 in der Ausstellung »Westfälische Kabarett Heroen« gewürdigt. Die Kriminalromane um den Privatdetektiv Maikötter haben ihn auch außerhalb von Paderborn bekannt gemacht. Bisher erschienen im Jahre 2007 »Der falsche Priester« und im Jahre 2009 »Miss Paderborn«. Beide Bücher sollen bei Nachfrage wieder im Wuppertaler NordPark Verlag aufgelegt werden.


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Christoph Mett, geboren 1978 in Mecklenburg-Vorpommern, geboren 1978 in Mecklenburg-Vorpommern, studierte an der Fachhochschule Münster Illustration, Druckgrafik, Malerei und Film. Er hat bereits mehrere Bücher für Kinder und Erwachsene illustriert und arbeitet im Bereich Trickfilm. Derzeit lebt und arbeitet er in Münster für diverse Magazine, Verlage und internationale Auftraggeber.
www.mettador.com



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