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Otto-webcover-Rotter-Bluete

Otto, Hans-Werner:
Rotter Blüte.
Biografische Erzählung.
224 S.; 2020; EUR 15,00;
ISBN: 978-3-943940-67-1

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Ausgangs- und Zielort: Barmen


Zweimal in seinem Leben trat er in die Kommunistische Partei ein, einmal wollte er, aber man ließ ihn nicht, einmal sollte er ausgeschlossen werden, zweimal verließ er sie freiwillig. Zweimal sollte er beseitigt werden: einmal von Kommunisten erschossen, einmal von der Nazi-Justiz durch Strick oder Fallbeil. Er ging als Deutscher nach Holland, Spanien und Frankreich, als Österreicher nach Deutschland. Man steckte ihn als Kommunisten ins Gefängnis, als feindlichen Ausländer in französische Internierungscamps, als Widerstandskämpfer in ein deutsches Arbeitslager. Er heiratete, wurde zwangsgeschieden, heiratete erneut.

Er legte Tausende von Kilometern zu Fuß zurück, als Wandervogel, fahrender Geselle, als Soldat gegen die Franco-Falangisten, als Zwangsarbeiter und auf der Flucht vor den Nazis, Ausgangs- und Zielort: Barmen. Er war Schlosser und Taxifahrer, Parteifunktionär, Sekretär, einfacher Soldat und Offizier, Gewerkschafter, Hilfsarbeiter und städtischer Angestellter. Meist hieß er Arthur, mal auch Jan oder Jean.
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Leseprobe:


1. Das Milieu

Arthur ist gerade zehn Jahre alt, als er 1914 auf den Rott zieht, nach Barmen in Preußen. Seine Mutter hat ihm erzählt, warum die Familie Fürth und Bayern verlassen musste: Ihr Mann, Anton Weddings, Arthurs Stiefvater, wurde des Landes verwiesen. Aus Bayern einfach rausgeschmissen. Dabei ist er gar kein Verbrecher, sagt die Mutter.
Arthur hat da so manchmal seine ganz geheimen Zweifel. Anton Weddings ist ihm fremd und etwas unheimlich geblieben, auch wenn er sich immer liebevoll um ihn bemüht hat und auch weiter bemüht. Nein, wahrscheinlich ist er wirklich kein Verbrecher, die Mutter wird es schon wissen. Aber Anton ist Sozialdemokrat. Der Kaiser mag keine Sozialdemokraten, hat Arthur gehört. Und Arthur mag den Kaiser! Nein, Anton ist nicht sein wirklicher Vater. Aber wer ist es dann?
Die Sozialdemokraten sind keine Verbrecher, hat ihm die Mutter gesagt. Anton Weddings hat den Streik in der Weberei angeführt, in der beide Eltern beschäftigt waren. Was ein Streik ist, hat Arthur schon verstanden. Dann aber hat der Besitzer der Weberei Streikbrecher bezahlt, und einige Streikbrecher wurden von Arbeitern schwer verprügelt, als sie das Werksgelände betreten wollten. Und dafür wurde nun Anton bestraft, obwohl der doch gar nicht geprügelt hatte? Das hat ihm die Mutter mehrmals erklärt, aber er versteht es immer noch nicht.
Für Arthurs Mutter, Elsa Gießwein, ist der Umzug nach Barmen die dritte Verbannung in Folge. Als sie 1904 Arthur gebiert und keinen Vater vorweisen kann, jagt ihr eigener Vater sie, die Schande über die Familie bringt, aus dem Haus. Auch aus der Textilfabrik wird sie entlassen, und sie gibt den Säugling in eine Pflegefamilie, damit sie am anderen Ende der Stadt, wohin sie sich verbannt fühlt, in besagter Weberei bei Lärm und Staub für wenig Geld viel arbeiten kann, um sich und den Kleinen zu ernähren und die Miete für eine kleine Kammer bezahlen zu können. Wir wissen nicht, wie es Arthur in der Pflegefamilie ergeht, als er die Mutter zu selten sieht, um ein Vertrauen zu allem, was ihn täglich neu umgibt, aufbauen zu können. Er ist ein stilles, verschlossenes, ängstliches Kind, wird er später rückblickend über sich sagen, eines, das sich vor der Wirklichkeit in Phantasien und Wunschvorstellungen flüchtet, immer wieder Geschichten von Prinzen und Helden erfindet, die es aber niemandem erzählen kann. Sein Vater kommt auch darin vor. Manchmal trägt der eine Ritterrüstung, manchmal gar eine Krone. Aber sein Gesicht bleibt verschwommen.
Elsa aber hat in der Weberei Anton kennen gelernt, einen Riemendreher und Bandweber aus Köln, der am Ende seiner Wanderjahre in Fürth hängen geblieben ist. Sozialdemokratisch, preußisch und aufgeklärt ist er hergekommen und macht sich nichts aus dem Gerede hinter dem Rücken der unverheirateten Mutter und Sünderin, erträgt es mit scheinbar unverletzbarem Selbstbewusstsein, so dass, als er Elsa schließlich heiratet, sich die Stimmung in der Belegschaft ihm vollends zuwendet und die Kollegen ihn zu ihrem Vertrauensmann bestimmen. Man muss sich zusammentun. Man muss sich gegenseitig helfen. Zu Hause, wo bald außer Arthur noch zwei weitere Kinder zu versorgen sind, und in der Fabrik. Auch Elsa hat an Achtung gewonnen und nimmt, von Anton immer wieder ermutigt, eine vergleichbare Aufgabe unter den Frauen des Betriebes ein.
Arthurs Mutter ist jetzt eine dreimal Verstoßene: aus der Familie, der Fabrik, aus Bayern; für den Stiefvater aber ist dies auch eine Heimkehr: zurück nach Preußen. Nicht nach Köln, sondern nach Barmen, wo im Tal der Wupper viele Schlote rauchen, wo sich neben der Textil- längst eine chemische Industrie etabliert hat, wo es viel Arbeit für fast annehmbare Löhne gibt, wo der Wohnraum knapp und teuer, aber der Organisationsgrad der Arbeiter hoch ist, wo die Sozialdemokratie der preußischen Rheinprovinzen ihr Zentrum hat und das »Milieu« in den Arbeitervierteln mit seinen zahlreichen Gesangs-, Wander-, Spar- und Sportvereinen, schreienden Kinderhorden, roten Fahnen und Blaskapellen, Stammtischen und den Warteschlangen vor den Verkaufsstellen der Konsumgenossenschaft Alltagsleben und Straßenbild bestimmt. Anton muss wegen sozialdemokratischer Aufwiegelei mehrmals die Stelle wechseln, aber es gibt genügend Textilfabriken, die ausgebildete Kräfte suchen. Wat fröcht en Reemendreier noch em Daler Göld, er verdient, aber die Familie wird immer größer.
Sie wohnen auf dem Rott, im Arbeiterviertel auf der Nordhöhe. Im Parterre des Hauses sind auf der einen Seite die Bäckerei Honke, auf der anderen die Webstühle des Bandwirkers Zander untergebracht, die drei Etagen darüber werden von acht Familien bewohnt. Arthur ist noch klein und seine zwei neuen, nachwachsenden Halbgeschwister Ernst und Grete sind noch viel kleiner, doch die Wohnung in der Rödiger Straße wird immer enger. Man muss zusammenrücken in dem einzigen, sechzehn Quadratmeter großen Schlafraum. In der Küche ist der steinerne Ausguss gleichzeitig die Waschgelegenheit, zum Klo geht man aber immerhin nur ins Treppenhaus, eine halbe Treppe, muss nicht, wie die Bewohner einiger Nachbarhäuser, alle schief getretenen, ächzenden Holzstufen bis in den Hinterhof hinuntersteigen und hoffen, dass eines der hölzernen Toilettenhäuschen frei ist. Kohleofen, aber nur ein Zimmer ist heizbar. Schräge Wände, denn die Wohnung liegt direkt unter dem mit Stroh mangelhaft isolierten Dach, also schwitzt man im Sommer und friert im Winter. Wenn das Milieu Wärme und Geborgenheit vermittelt, so tragen die proletarischen Wohnungen kaum Anteil daran. Wärme und Schutz durch das Milieu findet der Arbeiter nur, wenn er sein Heim verlässt und ins Vereinsheim geht. Das ist für viele die Kneipe gegenüber, die man später einmal nach dem Wirt »Blauer Engel« nennen wird, denn Josef Rubarth ist ein »Bläuken«, hat rote Haare. Hier treffen sich gewerkschaftliche und parteipolitische Gruppen, aber auch der Sparverein »Nur onger us«, der Radsportverein »Blitz Barmen«, der »Sportclub Germania Rott«, etliche Arbeitergesangsvereine, Kaninchen- und Taubenzüchter, auch die Sterbekasse »Eintracht« hält hier ihre Sitzungen ab. Die Kopfschlächter vom nahen Schlachthof lassen Schnaps in ihre Kaffeeflaschen füllen, die Fahrer, Schaffner und Monteure vom städtischen Fuhrpark kommen auf ein Bier herein, man kennt sich, man hilft sich. Auch Arthur schiebt sich manchmal durch den dicken, dunkelgrünen Vorhang, der als Windfang hinter der Eingangstür hängt, ins dunstige Innere, um für die Mutter nach Anton zu suchen, der dort auch mal einen Schnaps trinkt. Einen, höchstens zwei. Auf der Straße sieht er dann nach den kleinen Geschwistern. In seinem Fotoalbum findet sich später eine Aufnahme von 1927: sechsunddreißig ordentlich hintereinander aufgereihte Jungen und Mädchen im Alter zwischen vier und vierzehn Jahren, Ballonmützen, Zöpfe, dicke Schuhe, dicke Jacken, aber nackte Beine und aufgeschürfte Knie, staunende und feixende Gesichter, alle in die Kamera gerichtet. »Rotter Blüte« hat er das Bild betitelt und seine kleinen Geschwister Else, Hans, Anneliese und Helga mit Kreuzchen gekennzeichnet. Auch Arthur ist eine Rotter Blüte.

Er geht morgens knappe fünf Minuten zur Volksschule in der Alsenstraße, die man später, als Barmen und Elberfeld zur Stadt Wuppertal zusammengefasst worden sind, in Thorner Straße umbenennen wird, denn Elberfeld hat auch schon eine Alsenstraße. Auf dem Schulhof findet er Zuhörer für seine Geschichten, merkt aber bald, dass es sein bayerischer Akzent ist, der seine Mitschüler interessiert, nicht das Geschehen, das er um Ritter und Prinzen ranken lässt. Sie wollen keine Märchen, sie sind frühreif und straßenschlau, sie ziehen ihn auf, ahmen ihn nach und lassen ihn in der Schulhofecke stehen. Auf einem Foto aus dem Jahr 1914 mit siebenundvierzig Jungen, alle die Haare so kurz gestoppelt, dass sich Läuse schnell entdecken lassen, finden wir ihn in der Nähe von Lehrer Gertig, der eigentlich, ernst und mit mächtigem Hindenburg-Schnauzbart, eher Unnahbarkeit signalisiert. Arthur schaut mit hochgezogenen Brauen und geschürzten Lippen enttäuscht in die Linse, als habe er gerade eine unverdiente Rüge erhalten, hält die Arme vor dem Bauch gekreuzt. Kein Matrosenkragen wie einige, kein zweireihig geknöpftes Mäntelchen wie andere, sondern eine leichte Jacke, darunter ein Hemd mit breitem Kragen, aus dem ein Krawattenknoten oder der eines straff gebundenen Halstuches hervorschaut. Ein schmales Kerlchen. Hohe Stirn, leicht abstehende Ohren.
Er ist häufig allein. Aber manchmal gesellt sich Erich Gonner zu ihm und sie durchstreifen gemeinsam den Schönebecker Busch, das abschüssige, bewaldete Gelände hinter den Häusern des Arbeiterviertels. Ja, auch Erich macht ihn ab und zu nach, sein »Des woiß i net« reizt dazu, den fremden Klang auszuprobieren. Doch er kneift dabei häufig sein rechtes Auge zu, und das heißt: Ich meine es nicht böse. Arthur hat das schon öfters bei Erwachsenen gesehen, er hat den Stiefvater, Anton, einmal dabei ertappt, wie er ihm, Arthur, eine seltsame Antwort gegeben und gleichzeitig der Mutter dieses Blinzeln gesendet hat. Das hat ihn verunsichert.
Aber bei Erich verunsichert es ihn nicht, im Gegenteil. Erich ist fast sein Freund. Manchmal trauen sie sich hinaus aus ihrem Viertel, gehen die Bromberger Straße hinunter, die jetzt noch Düppelstraße heißt, überqueren die Carnaper Straße und laufen hinüber zum Schlachthof, erzählen sich, was sie von dem wissen, was hinter den Mauern geschieht, und wenn plötzlich ein paar kurze, laute Männerrufe und ein schrilles, angstvolles Quieken zu hören sind, stößt Erich Arthur an, leckt sich die Lippen und sagt: »Lecker Ziesen!« Arthur fällt es schwer, die Verbindung zwischen dem Quieken und dem köstlichen Geruch herzustellen, der die ganze Wohnung durchströmt, wenn die Mutter, selten genug, Ziesenwurst brät, wenn er dann sein eigenes Stück erhält und das schwarze Fett aus der schief gehaltenen Pfanne über die Kartoffelstücke auf seinem Teller schliert.
Auf dem Heimweg kommen sie am Zirkusgebäude auf dem Carnaper Platz vorbei. Sein Stiefvater hat ihm erzählt, dass dort bei der großen Maiversammlung von 1912 ein Karl Liebknecht öffentlich den Achtstundentag gefordert habe. Und er habe gesagt, dass die Aufrüstung, die Kaiser und Regierung betrieben, noch zu einem Krieg führen würden. Dann aber sei die Polizei eingeschritten, mit gezogenem Säbel, und man habe sich in Sicherheit bringen müssen. Ein junger Fahnenträger, gerade mal fünfzehn Jahre alt, sei verletzt worden. Auch von der Versammlung zwei Jahre später hat Anton erzählt, als hier sechstausend Menschen gegen den Krieg protestiert haben. Allesamt vaterlandslose Gesellen, hat Lehrer Gertig damals geschimpft.
Das fällt Arthur ein, als er mit Erich über den Platz geht, aber dann denkt er sich schnell Angenehmeres herbei: Zuckerwatte, türkischen Honig, Akrobaten und wilde Tiere. Wenn ein Zirkus gastiert, schleichen sie sich auch mal zwischen die Wohnwagen und zu den Käfigen. Atemlos sehen sie einem alten Löwen beim Schlafen zu, bis sie hinter sich die Schritte eines Erwachsenen hören. »Getz aber wacker!«, raunt Erich ihm zu und sie laufen um ihr Leben.
Anton liest viel. Wenn Arthur nachts noch einmal raus muss in den dunklen kalten Hausflur, die knarrenden Stufen hinunter, dann geht er erst durch die Küche, wo Mutter und Anton sich am Tisch das Licht unter der Lampe teilen: Mutter stopft oder näht, Anton liest. Manchmal lacht er dabei, ein bitteres, unfrohes Lachen. Oder er schüttelt den Kopf. Oder er sagt etwas zu Mutter, und sie schüttelt den Kopf. Wenn Arthur vom Klo zurück ist, frierend, darf er noch für einen Moment auf Mutters Schoß, ihre wärmenden Hände auf Brust und Rücken, und Anton beim Lesen zuschauen.
Anton bringt Arthur regelmäßig Bücher aus der Arbeiterbibliothek mit, erst waren es kleine Geschichten in großer Schrift mit Bildern, jetzt sind es oft die dicken Bücher von Karl May. Und da sind sie dann wieder: Arthurs Prinzen, Ritter, Helden, nur tragen sie Federn im Haar, Hüte mir breitem Rand, Turbane und Kaftan, keine Kronen und Rüstungen mehr. Jetzt sitzt Arthur manchmal abends noch mit Mutter und Anton am Tisch unter der Küchenlampe, während die Kleinen schon schlafen.
In der Schule werden seit der Versammlung der Vaterlandslosen auf dem Carnaper Platz echte Helden präsentiert: von den Soldaten, die ausgezogen sind, das Vaterland zu schützen, erzählt Lehrer Gertig. Von echten Helden mit echten Gewehren. Anton, der Sozialdemokrat, scheint sie nicht zu mögen. So wie er auch den Kaiser nicht mag, dem sie alle gehorchen. So wie er die Lieder nicht mag, die Arthur von der Schule mit heimgebracht hat. Kirchenlieder. Also singt Arthur sie nur, wenn er allein ist. Zeigt auch die Sammel-Kaiserbilder nicht dem Stiefvater, der sie ihm sonst wegnehmen würde. Und träumt nur heimlich weiter von seinen Helden. Anton selber soll auch einer werden, er wird eingezogen zu den Soldaten, aber er bleibt hinten, in der Etappe. Wenn er gefragt wird, wo sein Vater kämpfe, schämt sich Arthur. Irgendwo in Frankreich, sagt er und vielleicht stimmt das sogar.
Anton hat in der Wohnung ein Bett frei gemacht, aber es ist auch noch ein Kind hinzugekommen, Else heißt es, wie die Mutter. Sie sind jetzt zu viert, und wenn die drei Kleinen im Bett sind, sitzt Arthur mit der Mutter allein unter der Lampe und liest, während sie Heim- und Heeresarbeit leistet: zugeschnittener Leinenstoff, der viel Platz in der kleinen Wohnung einnimmt, wird zu Brotbeuteln und Säcken vernäht. Die Säcke werden an der Front mit Sand gefüllt, als Deckung auf den Rand der Schützengräben zu türmen, weiß Arthur. Er stellt sich vor, wie er sein Gewehr durch eine kleine Lücke, die die Sandsäcke ihm lassen, hinausschiebt; er hat natürlich vorher das Bajonett abgeschraubt, damit es nicht im Stoff hängen bleibt. Dann kneift er ein Auge zu, diesmal nicht, um anzudeuten, er meine es nicht so, diesmal ist es ihm ernst, er zielt auf Feinde und rettet Kaiser und Vaterland.
Da denkt Arthur ganz anders als sein Stiefvater. Anton mag den Kaiser nicht und hat kein Vaterland, er ist ja ein vaterlandsloser Gesell, und außerdem kann er es jetzt gar nicht retten, selbst wenn er wollte, denn er liegt ja nur in der Etappe. Es hat eine Weile gedauert, bis Arthur begriffen hat, dass die Soldaten gar nicht wirklich liegen, wenn sie in der Etappe oder vor Verdun liegen. Und dass sie gar nicht alle vorher fallen müssen, um nachher zu liegen. Erst liegen sie, dann fallen sie. Das versteht er endlich.
Eigentlich hat er jetzt immer Hunger. Immer. Die Ziesenbratwurst ist schon zu einem unerreichbaren Traum aus längst vergangener Zeit geworden. Er mag keine Steckrüben mehr, aber es gibt nur noch selten Kartoffeln und Dörrgemüse, und auch dafür muss man lange anstehen. In der Schlange erzählt man sich von dem, was Väter und Söhne bei den viel zu seltenen und zu kurzen Heimaturlauben von Stacheldraht, Blut und Giftgas berichtet haben, von Granattrichtern und Läusen und Schlamm und vielen, vielen Toten. Vielleicht hat Anton recht und es gibt gar keine wirklichen Helden. Mit abgrundtiefem Bedauern zieht Arthur sein Gewehr aus den Sandsäcken zurück und schneidet weiter mit dem Küchenmesser, das kein Bajonett mehr ist, Steckrüben in Stücke.
Als er im März 1918 aus der achten Klasse ins Erwachsenenleben entlassen wird, ist er noch keine vierzehn Jahre alt. An eine Ausbildung ist noch nicht zu denken, da würde er ja zu wenig Geld für die Familie verdienen, doch er kann in der Buchhandlung Graeper am Barmer Bahnhof Zeitschriften verkaufen. Das bringt nicht viel ein, aber immerhin mehr als die Lehrgroschen. Und es ist Arbeit, die zu bewältigen ist, es gibt sogar manchmal Zeit, Artikel aus den Tageszeitungen zu lesen. Frühjahrsoffensive stößt fast bis Paris vor. Bleibt aber stecken. Flandernschlacht. Große Sommeroffensive und große Grippewelle. Schwarzer Tag des deutschen Heeres bei Amiens.
Der Jahrgang 1900 wurde schon eingezogen und Arthur kennt ein paar Jungen vom Rott, die jetzt in Uniformen stecken und da draußen liegen. Im Dreck, wie er weiß, im Schlamm der Schützengräben. Bei ihnen läge er jetzt nicht so gerne, obwohl er eigentlich immer noch Held werden will. Aber man hat sich in den Schlangen vor dem Konsum von zu vielen toten Helden erzählt, und einige hat er auch gekannt. Ganz andere Helden sind das in Russland, hört er, nicht die deutschen, sondern die russischen Soldaten, die sich haben besiegen lassen, damit sie in Ruhe ihre Räte wählen und den Arbeiter- und Bauernstaat aufbauen können. Russland wird das Vaterland der Helden.
In einer Steindruckerei an der Kaiserbrücke kann Arthur etwas mehr Geld verdienen als bei Graeper, muss aber auch länger arbeiten. Er bestaunt die prächtigen, bunten Reklamelithographien im Kontor, lädt Farbeimer und Papierpakete von Pferdefuhrwerken, schiebt den Handkarren mit Steinblöcken in den Maschinenraum, fegt den Hof, putzt Maschinen und Klo, darf aber auch mal zu bedruckendes Papier passgenau nachlegen, wenn eine der Frauen fehlt. Die Ausbildung zum Lithographen könnte ihm gefallen, aber es gibt gerade nicht genügend Aufträge und bald kann auch seine Hilfsarbeiterstelle nicht mehr bezahlt werden. Arthur ist das eigentlich ganz recht, denn seit ihn ein paar Kollegen mal darauf angesprochen haben, dass er unehelich ist, fühlt er sich nicht mehr wohl in dem Betrieb. Wo hat deine Mutter dich denn aufgeschnappt, hat man ihn scherzhaft gefragt, er ist rot geworden und hat sich schnell ein Loch zum Verkriechen gesucht.
Inzwischen ist Anton heil aus dem Krieg zurück, und die Kinder müssen am Abend früher ins Schlafzimmer, weil er noch mit Kollegen und Kriegskameraden unter der Küchenlampe zusammensitzen möchte; Arthur als Ältester ist manchmal dabei, die Mutter auch, wenn die Kleinen sie lassen. Die Männer sprechen aufgeregt, aber nicht zu laut, darauf achtet Anton. Sie trinken klaren Schnaps, sie rauchen und es stinkt nach Schwarzem Krauser. Sie tragen auch noch ihre feldgrauen Uniformen, aber keine blitzenden Säbel und blinkenden Orden dazu. Keine Helden. Arthur hört oft bekannte Namen mit L fallen: Lenin, Liebknecht, Luxemburg, die kennt er noch aus den Zeitschriften der Bahnhofsbuchhandlung, das scheinen tatsächlich Helden zu sein. Obwohl Liebknecht und Luxemburg doch im Gefängnis sind und Luxemburg eine Frau ist. Arthur weiß nicht so recht, worum es geht.
Einmal haben die Männer ihre Gewehre dabei und stellen sie an den Küchenschrank, Arthur darf eines vorsichtig halten. Er hebt es hoch und wundert sich, wie schwer es ist, kneift ein Auge zu und zielt, bis Anton seine Hand auf den Lauf legt und ihn sachte hinunterdrückt. An diesem Abend sitzen die Männer nur ganz kurz am Tisch, dann nehmen alle ihre Gewehre und gehen hinunter auf die Straße, auch Anton. Nein, Arthur soll lieber bei Mutter und den Kleinen bleiben. Es ist nämlich Revolution. Die Matrosen aus Kiel sind noch nicht angekommen, aber die Revolution hat begonnen. Am nächsten Tag sieht Arthur die Feldgrauen mit ihren geschulterten Gewehren auf den Straßen, Lauf nach unten, viele tragen rote Armbinden.
Noch ein Arthur, aber in groß: Arthur Müller vom Rott ist einer der Matrosen, die den Kieler Aufstand miterlebt haben. Er erzählt, wie sie die Offiziere verjagt und den Zahlmeister ihres Schiffes über Bord geworfen haben, der habe da noch hilflos im Wasser gerudert, als man seinen Panzerschrank, aus dem man noch schnell die restlichen Soldgelder herausgeholt hatte, ihm hinterher schmiss, genau auf ihn drauf. Versenkt. Das sei ja schrecklich, sagt die Mutter, das sei ja Mord. Er könne ihr noch viel Schrecklicheres erzählen, sagt Arthur Müller. Aber damit sei jetzt Schluss.
Der Krieg ist zu Ende.


2. Bubi Mondschein

Einer der ersten Erlasse des Arbeiter- und Soldatenrates, dem in Barmen das Rathaus übergeben wird, ist das Verbot des Ausschankes alkoholischer Getränke – außer Wermut und Bier, natürlich. Wie sollte auch ein Arbeiterrat den Arbeitern das Bier verbieten?
Seit Beginn des Jahrhunderts ist immer wieder gewarnt worden: Alkohol schadet dem Klassenkampf. Der Alkohol ist der Feind des Proletariats. Ein trinkender Arbeiter denkt nicht, ein denkender Arbeiter trinkt nicht. So etwas sagt der Abstinenzlerbund, der 1903 gegründet wurde, innerhalb der Arbeiterbewegung aber seither einen schweren Stand hat. Karl Kautsky führte schon damals die Bedeutung der Kneipenkultur dagegen ins Feld: Ohne Kneipen hätte es kaum Versammlungsorte der Sozialdemokraten gegeben, denen man doch immer wieder verboten hat, größere Säle anzumieten. Und Kneipen ohne Bier?
Jetzt hocken die wenigen Abstinenzler vom Rott, wenn sie sich in der Kneipe, die noch nicht Blauer Engel heißt, zu einer Vereinssitzung treffen, bei Selters und Brause an einem kleinen Tisch, etwas abseits, und müssen mitleidige Blicke und viele Witze über sich ergehen lassen. Die Genossen vom Nachbartisch heben die Biergläser, rufen rüber, lachen und trinken auf ihr Wohl. Aber irgendetwas oder irgendwer scheint diesen Abstinenzlern auch eine gewisse Anziehungskraft zu verleihen, sonst würde Arthur Gießwein wohl nicht eines Tages eintreten. Bei den Abstinenzlern und den Naturfreunden, dem »Touristenverein« der Arbeiterbewegung.
Noch arbeitet er bei Kötter, einer Ketten- und Schraubenfabrik im Unterdörnen, nur ein kurzer Fußweg vom Rotter Berg hinunter. Immer noch Hilfsarbeiter. Sortiert Schrauben in dicke Holzkästen, hievt sie auf Handwagen und bugsiert sie über den Hof. Schaufelt Kohle, stapelt Briketts und darf sich nur in unbeobachteten Momenten mal kurz hinsetzen, zum Beispiel auf das kleine Mäuerchen in der Einfahrt, von wo aus er bei geöffnetem Tor auf die Straße sehen kann. Manchmal huschen Leute durch diesen kleinen Ausschnitt und Arthur träumt ihnen eine kleine Geschichte herbei, manchmal sind es Mädchen, die da huschen, und dann träumt er auch ihnen eine Geschichte, nur kommt er selber darin vor.
Oft aber träumt er sich einfach nur weg von Fabrik und Schornsteinqualm, von den engen, dunklen Straßen des Viertels mit seinen meist üblen Gerüchen und den vollgepissten Löws, in denen am Abend die geschminkten Mädchen auf Kunden warten, mit denen sie dann im Hinterhof verschwinden. Er träumt sich weg von den Hinterhöfen, wo unzählige dreckige Kinder spielen und singen und schreien, wo zwischen Kaninchenställen, Mülleimern, Wäscheleinen und hölzernen Klohäuschen Küchenabfälle über einen Drahtzaun in ein winziges Gehege gekippt werden, in dem ein Schwein sein kurzes Dasein fristet, wo alle Gerüche und Ehestreitigkeiten laut und beißend von einer Wohnung in alle umliegenden dringen, wo nur wenig privat bleiben, kaum etwas verborgen werden kann. Das Milieu hat ein Netz gespannt, doch es kann nicht jeden auffangen. Besoffene Arbeiter torkeln in der Samstagnacht durch die großen Maschen, ziehen grölend die dunklen Straßen entlang, umarmen die nächste Gaslaterne, beschimpfen unsichtbare Feinde, schlagen zu Hause Frau und Kinder, den ganzen Stall von Blagen, und alle, alle hören zu. Arthur träumt sich weg.
Komm doch mal mit, sagt Anton eines Tages. Und so ist Arthur dabei, als im Blauen Engel, der noch gar nicht so heißt, die Rotter Ortsgruppe der Naturfreunde gegründet wird. Die anderen dort sind nur wenig älter als er. Sie sind freundlich statt zotig, manchmal singen sie und ihre Augen leuchten dabei, aber es sind keine Kirchenlieder, und sie trinken keinen Alkohol. »Auch keinen Messwein«, sagt Erich, der jetzt ebenfalls dazugehört. Ihre Ortsgruppe schließt sich dem Wandervogel-Verein an, dem mit der dreieckigen schwarzen Fahne, na, eher ein Wimpel, mit dem stilisierten Greifvogel darauf – oder ist es ein Kranich? Sie freuen sich auf den Frühling, wenn sie, noch bevor die Kraniche kommen, hinausziehen werden, dem Lauf der Wupper nach Süden folgen, dann rauf auf den Ehrenberg oder weiter weg, nach Krebsöge und ins Wiebachtal, immer in freier Natur.
Arthur findet eine Lehrstelle, und im Januar 1920 tritt er sie an. Wieder arbeitet er ganz in der Nähe, fast noch auf dem Rott. Eine knappe Viertelstunde geht er jetzt täglich zu Fuß zur Maschinenfabrik Krenzler in der Sanderstraße, die zum neuen Krankenhaus hinaufführt, und lernt dort Schlosser und Dreher. Er steht am Schraubstock, feilt und feilt und hat keine Zeit zu träumen. Aber in den kurzen Pausen spricht er mit ein paar Gesellen, zwei Naturfreunde sind auch darunter.
Im März lässt der Meister urplötzlich die Fabriksirene aufheulen. Alle außer Arthur scheinen zu wissen, worum es geht.
Tja, Arthur, sagt der Meister, jetzt solltest du ganz schnell in die Gewerkschaft, den Metallarbeiterverband, eintreten, sonst kriegst du den Streik nicht bezahlt. Außerdem könntest du auch richtig Ärger im Betrieb bekommen, mit den Kollegen.
Aber es geht nicht nur darum.
Wir Arbeiter müssen jetzt zusammenhalten, sagt ein Geselle. Das kann man doch nicht alles den Kameraden in Berlin überlassen, jetzt sind wir alle gefragt.
Arthur versucht aus den Bemerkungen, die überall fallen, herauszufinden, was da los ist in Berlin und warum dann hier in Barmen gestreikt wird, aber erst am Abend unter der Küchenlampe, als ihm Anton erzählt, was er vom Kapp-Putsch weiß, versteht er, warum man wütend ist, überall im Viertel. Und was man befürchtet. Warum Anton sein Gewehr aus dem Krieg herausholt, das er auf dem Oller versteckt hat. Erst gibt es nur den Streik und Versammlungen, aber dann hören sie, dass Militär in der Stadt ist, Freikorps, dass aus dem Süden über tausend Solinger Arbeiter gekommen sind, um zu helfen. Dass die Solinger sich hier ganz in der Nähe, in der Rittershauser Ziegelei, versteckt haben, dort aber aufgestöbert und von der Polizei beschossen werden, die mit dem Militär gemeinsame Sache macht. »Noskes« nennen einige die Gegenseite, obwohl Gustav Noske doch als Sozialdemokrat und Mitglied der Reichsregierung den Generalstreik mit ausgerufen hat und mit Ebert zusammen vor den Putschisten fliehen musste. Er hört, dass die Barmer Arbeiter die Polizeiwache im Rathaus gestürmt und Waffen erbeutet haben, mit denen sie sich jetzt gemeinsam mit den Solingern gegen die von Elberfeld vorrückenden Soldaten verteidigen. Dass die Soldaten auf Menschen in Fenstern geschossen und dabei etliche, meist jugendliche Unbeteiligte getötet haben. Dass sie in Wohnungen eingedrungen und Leute herausgezerrt, Verdächtige draußen, in den Löws, erschossen haben.
Sie haben kein Mitleid, sagt der Meister, wie Tiere.
Arthur und seine Kollegen sind von der Fabrik die Schönebecker Straße hinunter zur Rudolfstraße gezogen, wo sie mit vielen anderen die Kreuzung verstopfen. Sie hören Schüsse, manchmal kommt auch einer der Kämpfer atemlos her gerannt und wird versorgt, immer neue Geschichten machen die Runde, die Menge wird laut, dann plötzlich, bei einer eintreffenden Todesnachricht, ganz still. Arthur trifft Anton und ist stolz auf ihn, als der, angetan mit einer roten Armbinde, zu den Leuten spricht und sie ihm zuhören. Er spürt, was es heißen muss, nicht mehr inmitten von anderen allein zu sein, sondern seinen Platz unter ihnen zu haben. Sich nicht mehr wegträumen zu müssen.
Nur zwei Tage später ziehen sich die Noskes aus dem Wuppertal zurück. Der nächste Tag, der 21.März, ist ein Sonntag, und so kann sich eine große Menge versammeln, als die meisten der siebenundzwanzig Toten aus Barmen vor dem Krankenhaus aufgebahrt werden. Arthur trifft seine Kollegen vor der sonntagsruhigen Fabrik, gemeinsam gehen sie die Sanderstraße hinauf, hören die Reden und lassen sich ergreifen vom Stolz auf den Sieg, der Freude über die im Kampf gewonnene Einheit der Arbeiter, SPD, USPD und KPD, alle gehören auf einmal wieder zusammen. Und von der Trauer um die Toten, deren Geschichten durch die Menge weitergereicht werden. Drei große Leiterwagen, von je zwei Pferden gezogen, stehen bereit, die Särge aufzunehmen und sie in einem langen Zug über den Klingelholl und die Westkotter Straße, die Wupper überquerend, nach Heckinghausen und auf die Südhöhen zum Ehrenfriedhof zu fahren, wo bisher nur tote Weltkriegsteilnehmer liegen. Arthur und zwei seiner Kollegen gehen mit dem Zug, an den Straßen zu beiden Seiten Menschen, die still werden und die Mützen ziehen, wenn die Leiterwagen an ihnen vorbei übers Kopfsteinpflaster rumpeln. Fahnen und Wimpel der Parteien, der Gesangsvereine, der Volksfürsorge und der Konsumgenossenschaft, der Arbeitersportvereine, Blitz Barmen ist auch dabei, und viele einfache, rote Fahnen ohne Aufdruck. Der letzte Kilometer führt durch dichten Wald bis zur Lichtung des Friedhofes, wo sich der Geleitzug mit dem aus Elberfeld vereinigt, die Menge der Versammelten wird unüberschaubar groß. Fünf Chöre stellen sich auf, um gemeinsam das heroische »Tord Foleson« zu singen: das Banner kann stehen, wenn der Mann auch fällt, Arthur bekommt eine Gänsehaut. Da sind sie wieder, seine Helden. Das Lied wird jetzt überall im Deutschen Reich bei den Trauerfeiern gesungen, sogar in Berlin, erfährt Arthur. Das wundert ihn, denn der Komponist Uthmann stammt vom Sedansberg und er hat immer gedacht, dass man es nur in Barmen kenne. Auch der Klempner und Dichter Werner Möller, der im Januar des letzten Jahres in Berlin mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von den Noskes ermordet wurde, hat vorher auf dem Sedansberg gewohnt. Barmen ist überall, sagt Erich Gonner und kneift sein rechtes Auge zu. Arthur hat ihn plötzlich in der Menge entdeckt und sich zu ihm durchgedrängt. Er ist Lehrling in einer Färberei, und sie haben sich viel zu erzählen.
Sie sehen sich jetzt öfters. An Samstagen, wenn die Arbeit in den Fabriken manchmal früher endet und der Wandervogel aus der Stadt herauszieht. Arthur ist mit den abstinenten Kollegen und den Naturfreunden dabei. Junge Männer in kurzen Hosen mit Mandolinen, Gitarren und Mundharmonika, mit Rucksäcken, schwarzen, schweren Zeltplanen, junge Männer, die, haben sie erst einmal das Rauental im Süden der Stadt erreicht, um so lauter und aufgeregter werden, je näher sie der Oehde und der Textilfabrik Bemberg kommen, wo Spulerinnen in Mädchengruppen zu ihnen stoßen. Es gibt Bündische, die keine Mädchen zulassen, aber wir sind ja keine warmen Brüder, sagt Erich. Und Arthurs Kollege meint, man müsse die Abstinenz nicht gleich in allem und jedem üben.
Eine Woche Jahresurlaub für weitere Ziele, einmal sogar Tirol, sonst immer wieder Wochenendfahrten, auch mal bei schlechtem Wetter. Überall haben sich die Vereine Hütten gebaut, die genutzt werden können, wenn man die Querverbindungen zwischen den verschiedenen Gruppen der Arbeiterwanderer im Wandervogel bemüht. Die Abstinenzler bauen eine im Marscheider Tal, trinken dort abends ihre Tees und springen am Morgen nackt in den nahen Mühlenteich.
Da draußen atmet Arthur durch. Er hat inzwischen fünf kleine Geschwister, Halbgeschwister, fast wären es sechs gewesen, aber ein Kind kam tot zur Welt. Immer noch wohnen sie in der Rödiger Straße 122, dieselbe winzige Wohnung, die Enge ist kaum vorstellbar, und solange sie noch hineinpassen, müssen die Säuglinge in einer Schublade der dicken Kommode schlafen. Arthur kümmert sich liebevoll um die Kleinen und Anton bemerkt, wie gerne der Achtzehnjährige Verantwortung übernimmt. Er schlägt ihm vor, eine Kindergruppe bei den Naturfreunden zu leiten.
Arthur ist einverstanden. Jetzt spielt und singt er mit den Kindern, die er Küken nennt, schreibt ihnen auch kleine Stücke fürs Theaterspielen: ein Weihnachtsstück um Alberich, den Zwergenkönig, ein Stück zum Neuen Jahr, die Schwänke »Die geprellte Marktfrau« und »Tünnes wird Soldat«. Bei der geprellten Marktfreu treffen auf dem Markt Reich und Arm zusammen, Sympathieträger ist ein Gauner mit Trinkernase aus der Arbeiterklasse, der aber am Ende, weil er unrecht gehandelt hat, vom dicken Polizisten abgeführt wird. Und Tünnes ist so ungeschickt, dass er dadurch dem Soldatendasein entgeht und Berta heiraten kann. Schließlich schreibt der junge Linke noch ein Stück um Mord, Totschlag, Liebe und Ordnung, in dem es am Schluss ganz und gar nicht sozialistisch heißt:
»Selbig sieht’s in einem Lande aus, das wo keinen richt’gen Fürst besitzt, alles geht drunter und drüber... Deutschland muß ... einen Fürst bekommen, der wo versteht zu regieren. Deutschland muß groß und stark + einig werden!«
Auf einem Foto, das 1923 bei einem Sommerfest der Barmer Volkshochschule in der Ronsdorfer Wolfskuhle entstanden ist, hockt er am unteren Rand inmitten seiner Küken, darüber eine große Mischung von über fünfzig Männern und Frauen unterschiedlichen Alters, heitere und grimmige Gesichter, Matrosenkragen der Jungen, Schillerkragen der Jugend und steife Kragen von gesetzten Herren, die Frauen und Mädchen tragen weite, weiße Kleider. Arthur ist jetzt neunzehn Jahre alt und ragt doch sitzend kaum über die Kinder hinaus, die sich um ihn geschart haben. Er blickt gutgelaunt und gelöst in die Linse, er träumt nichts weg und nichts herbei, er hat seinen Platz, hier und jetzt.
Seinen Platz findet er auch unter den Gleichaltrigen, den Abstinenten, den Naturfreunden, den Wandervögeln, mit denen er singt und wandert und all die neuen Ideen bespricht, die in durch Krieg und Zerstörung geschaffene Freiräume eindringen. Und sie spüren an sich, wenn sie Vorträge über Landkommunen, Freiwirtschaft, freie Liebe, Empfängnisverhütung, Sozialismus, die Ideen eines Rudolf Steiner und gesündere Ernährung hören, wenn sie, Mädchen und Jungen, zusammen nackt baden gehen: Des Kaisers Obrigkeitsstaat mitsamt Kadavergehorsam, Klassendünkel und all seiner Prüderie geht zum Teufel, während er selbst ohnmächtig in Holland Holz hackt. In Arthurs Fotoalbum findet sich eine Aufnahme junger Männer und Frauen mit nachdenklichen Mienen, die sich auf einer Wiese gelagert haben, »Werner Zimmermann spricht!«, hat Arthur daruntergeschrieben. Der Anhänger Silvio Gesells, Lebensreformer, Prediger von Freikörperkultur, Freiwirtschaft und Sozialismus gleichermaßen, findet aufmerksame Zuhörer.
Der Traum von der Wiedervereinigung der Arbeiterparteien ist zwar geplatzt, aber immerhin sind viele aus der aufgelösten USPD bei den Kommunisten gelandet. Ihre Jugendorganisation heißt jetzt Kommunistischer Jugendverband Deutschland, KJVD, und seit 1922 ist Arthur Mitglied. Anton sähe ihn lieber bei der SAJ, der Sozialistischen Arbeiterjugend der SPD, aber Arthur muss seinen eigenen Weg gehen. Nein, er rebelliert nicht gegen den Stiefvater. Nur ein bisschen, vielleicht. Die Generationen müssen ja nicht in allem übereinstimmen. Und Arthur gehört eindeutig zur neuen. Die Jugend ist nicht mehr nur Übergang vom Kindsein zum Erwachsenenalter, die Jugendlichen sind in einer ganz besonderen, einer aufregenden Phase ihres Lebens, sie werden sich ihrer selbst bewusst, die Blüten haben sich geöffnet, auch die Rotter. Sie haben es nun in der Hand, die Wandervögel, Kommunisten, Anarchosyndikalisten, Lebensreformer und Lichtverkünder, sie selbst können Neues bauen. Das Inflationsjahr lässt sie hungern, aber nicht verzweifeln; nur in den wenigsten Familien gibt es Ersparnisse, die verloren gehen könnten. Immer wieder große Momente gemeinsamen Erlebens, meist draußen im Grünen.
Aber eher in den warmen Jahreszeiten. Das sehnsuchtsvolle Warten darauf im Winter, wenn Arthur die Zeit nutzt, auf der geliehenen Gitarre die von anderen abgeguckten Akkordgriffe übt und seine Fingerkuppen, eh schon vom vielen Feilen abgenutzt, heftig schmerzen. Die Märzfeier auf dem Ehrenfriedhof, die jetzt jedes Jahr zum Gedenken an die Toten von 1920 abgehalten wird, läutet mit dem Frühling auch die Wandervogel-Saison ein.
Einmal ziehen sie nach Nordwesten ins Landheim bei Aprath, lagern abends noch am Teich und lassen das Feuer herunterbrennen, um nicht mit dem vollen Mond zu konkurrieren, den sie leise besingen. Arthur ist mittlerweile Sprecher der Barmer Wanderscharen, er führt nur selten das große Wort, ist aber oft initiativ. Und jetzt fände er es großartig, wenn sie noch einmal baden gingen, alle zusammen.
Nee, lass man, sagt Erich und gähnt. Und Rudi Abel sagt gar nichts, sondern sieht ihn nur verständnislos an.
Ach, kommt!
Geh du doch!, sagt August Umbach. Dann komm ich vielleicht auch noch.
Keiner will mit, auch Emil Lenz nicht, der vorher noch den Mund so voll genommen hat. Man ist am warmen Feuer schläfrig geworden, aber alle ermutigen ihn.
Nun geh schon, sagt Paul Schuchard. Geh für uns.
Allein möchte Arthur eigentlich gar nicht, aber jetzt muss er wohl. Sie sehen ihm nach, wie er, kleiner und schmächtiger als sie alle, nackt in den Teich steigt, wie seine Haut im schwarzen Wasser glänzt, und jemand sagt: Seht mal, unser Bubi Mondschein.
Arthur hat seinen Fahrtennamen.
Im Januar 1924 sind vier Lehrjahre vergangen, Arthur wird weiter beschäftigt und arbeitet noch bis zum Sommer des nächsten Jahres bei Krenzler. Von den vierzig Mark in der Woche, die er nun als Geselle verdient, gibt er zwar den größten Teil zu Hause ab, kann aber auch ein wenig zurücklegen, um im August 1925 seine Wanderjahre zu beginnen. Wenn sie auch schon längst nicht mehr als Bedingung für eine spätere Meisterprüfung gelten, so versprechen sie doch immer noch Abenteuer, Entdeckung und Bewährung, ganz im Sinne der Wandervögel, da muss man dann auch die Gemeinschaft mal verlassen.
Schade ist nur, dass er damit auch Else verlassen muss. Nicht Elsa, seine Mutter, nicht Else, seine Schwester, sondern Else Radtke, die Dunkelhaarige. Sie ist dabei gewesen auf etlichen Fahrten der Naturfreunde, spielt Geige und hat fröhliche Augen, ist ebenfalls Mitglied im KJVD, selbstbewusst und zugänglich, auch für Arthur, der immer noch in vielen Situationen viel zu schüchtern auftritt. Er wird ihr schreiben, von unterwegs.





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