Karl Otto Mühl:
Nackte Hunde.
Paperback. 208 S., 2005;
12,00 Eur[D] / 12,40 Eur[A]
ISBN: 3-935421-06-0
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Leseprobe
Das Rauschen des Meeres und das regelmäßige Klatschen der
Wellen gegen die eisernen Schiffswände vermischten sich.
Gustav lag auf einer Pritsche unter Deck und wußte, daß er auf
der Heimfahrt war. Er kehrte zurück, noch als Kriegsgefangener,
aber als einer, auf den niemand mehr aufpassen mußte. Die englische
Begleitmannschaft interessierte sich nicht mehr für die
Gefangenen, sie war dabei, ihre ungeliebten Zöglinge zu entlassen.
Was immer die Deutschen hier und drüben auf dem Kontinent
in den vergangenen Jahren für sie gewesen waren, jetzt und
für noch lange Zeit betrachteten sie jene, jedenfalls in der Menge,
als gesichtslose Eingeborene.
Gustav hatte auf den Transfers über See während der Gefangenschaft
die Seekrankheit kennengelernt. Sie hatte ihm nicht
besonders gefallen. Darum verbrachte er die kurze Überfahrt von
Schottland nach Cuxhaven hauptsächlich liegend, das half
etwas.
In den vergangen Jahren hatte er immer Kameraden um sich
gehabt, die er kannte oder mit denen er wenigstens einige kümmerliche
Gemeinsamkeiten hatte, irgendwo waren sie irgendwann
einmal zusammengewesen. Aber die Mitgefangenen hier
an Bord waren fremd, schlimmer noch, sie waren dabei, sich
langsam zu Zivilisten zurückzubilden. Bei dem einen ahnte
Gustav aufkeimende Hochnäsigkeit, beim anderen den festen
Erwerbssinn des Fabrikanten oder Ladeninhabers, bei einem
dritten die Würde des Pädagogen oder Beamten; nur bei sich
ahnte er derartiges nicht. Gustav zog sich an einer Stange hoch
und stand auf, als wolle er jemandem entgegengehen. Durch die
Decksluke sah er den zusammengeballten grauen Morgenhimmel,
Regenwasser tropfte herab.
Er war nichts und er hatte nichts, aber eines hatte er, die
Gewißheit, bald frei zu sein, freier als je. Er meinte, es gebe
nichts zu fürchten. Er hatte nichts und zugleich alles. Und er
schwor sich bei laufender Nase im eiskalten Wind, sich niemals
mehr aus dieser Haltung reißen zu lassen, sich niemals der Gier
nach was auch immer zu überlassen, und immer nur auf eines,
das vor ihm steht, zu blicken. Was dies war, wußte er allerdings
nicht. Aber sonst schien es nichts im Universum zu geben, an
das er sich halten konnte, am allerwenigsten war er das selbst.
Er meinte, niemals mehr einen größeren Augenblick in seinem
Leben gehabt zu haben. Vielleicht hatte er Ähnliches verspürt,
als er vor vierundzwanzig Jahren zum ersten Male die
Augen öffnete. Er wußte von seinen Eltern, daß es an einem sonnigen
Morgen im Februar 1923 in Nürnberg gewesen war ...
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